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Kein Sex vor der Ehe Das steckt hinter dem Mythos Jungfräulichkeit

Noch immer spielt Jungfräulichkeit in vielen Kulturen eine grosse Rolle. Meist geht es um die Kontrolle über die Frau.

Wann, mit wem, wie, und vor allem: unter welchen Bedingungen? Das erste Mal Sex ist aufgeladen mit gesellschaftlichen Erwartungen, die auf überlieferte kulturelle und religiöse Vorstellungen zurückgehen. Im Fokus stehen junge Frauen.

Unter dem Titel «Like a Virgin» knöpft sich ein neuer Dokumentarfilm die Jungfräulichkeit vor – und bezeichnet sie als Erfindung. Als ein von Geschichte, Religion und Medizin fabrizierter Mythos, dessen Ziel darin besteht, die Frauen zu kontrollieren.

Kein Sex vor der Ehe

Nach der sexuellen Revolution und der Erfindung der Pille glaubten viele, die Diskussion um Jungfräulichkeit sei hinfällig. Doch bald zeigten sich Gegenbewegungen. Mit der christlichen Bewegung «True love waits» («Wahre Liebe wartet») geloben junge Frauen und Männer rund um den Globus, mit dem ersten Mal zu warten, bis sie heiraten.

Väter mit ihren Töchtern in Kleidern stehen in einer Reihe
Legende: Bitte lächeln! Mit viel Aufwand wird an den alljährlich stattfindenden «Purity Balls» Jungfräulichkeit inszeniert. «Like a Virgin»

In den USA finden in konservativ-religiösen Kreisen sogenannte «Purity Balls» statt: Junge Mädchen versprechen ihren Vätern feierlich, ihr erstes Mal für die Ehe aufzusparen. Auch in vielen islamischen Gesellschaften ist die Jungfräulichkeit ein wichtiger Wert.

Unberührt soll die Frau in die Ehe eintreten. Dem Vater als Oberhaupt der Familie fällt die Rolle zu, die «Familienehre» zu verteidigen und so die soziale Ordnung zu festigen.

Oft werden Begriffe wie «unberührt», «rein» und «unbefleckt» synonym verwendet. In fast allen Religionstraditionen finden sich solche Vorstellungen von «Reinheit». Dem ersten Mal muss also viel «Schmutz» anhaften.

Blutfleck als Beweis

Wenn eine Frau heiratet, fordern patriarchale Gemeinschaften handfeste Beweise für ihre Unberührtheit: Der Blutfleck auf dem Leintuch soll ein zuvor intaktes Jungfernhäutchen dokumentieren. Für Frauen kann es bittere Konsequenzen haben, wenn sie vor der Heirat Sex hatten. In jüngster Zeit boomen medizinische Angebote, die eine physische Rekonstruktion des Hymens anbieten – auch in der Schweiz.

«Frauen, die ihr Hymen chirurgisch wiederherstellen lassen, sehen in ihrem früheren Geschlechtsverkehr eine Beschmutzung», sagt die Anthropologin und Buchautorin Ibdissem Ben Dridi im Film «Like a Virgin». Folgerichtig empfänden sie den chirurgischen Eingriff als Mittel zur Reinigung und fühlten sich physisch und psychisch «sauberer».  

Jungfernhäutchen wie Haargummi

Dabei unterliegt das volkstümliche Verständnis von Jungfräulichkeit einem Missverständnis: Das Objekt der Begierde, der Hymen, ist nur bei wenigen Frauen eine durchgehende Membran. Meist ist es ein dehnbarer Ring aus faltigem Gewebe rund um die Vaginalöffnung.

Zwei junge Ärztinnen aus Norwegen haben mit «Viva la Vagina» ein vielbeachtetes Buch über das weibliche Geschlechtsorgan geschrieben. Ellen Støkken Dahl und Nina Brochmann vergleichen den Hymen mit einem Haargummiband. Sie betonen, dass nur etwa die Hälfte der Frauen beim ersten Sex bluten. Die Blutung entsteht, wenn das Gummiband zu wenig elastisch sei.

zwei junge Frau halten ein pinkes, grosses Haargummi
Legende: Hymen gleich Haargummi? Dieser hübsche Vergleich stammt von den Autorinnen Ellen Støkken Dahl und Nina Brochmann. «Like a Virgin»

Freiheit der Entscheidung

Auch in säkularen und vermeintlich aufgeklärten Gesellschaften ist die Jungfräulichkeit noch immer mit vielen Mythen und Missverständnissen belegt. Doch es gibt Menschen, die sich in aller Freiheit für ein Leben oder eine Lebensphase ohne Sex entscheiden, aus religiösen, weltanschaulichen oder persönlichen Gründen. Für sie ist die eigenständige Entscheidung zur Enthaltsamkeit eine Kraftquelle.

Sendung: SRF 1, Sternstunde Religion, 30.05.2021, 10:00 Uhr

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