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Kim de l’Horizon «Körper wie ich repräsentieren die totale Freiheit»

Die non-binäre Autorperson über Schnauz und Schminke, die Magie der Sprache und unsere tiefe Sehnsucht nach Verbundenheit.

Viel ist über Kim de l’Horizon geschrieben worden, seit de l’Horizon, ursprünglich aus Ostermundigen, als erste non-binäre Person den Deutschen und den Schweizer Buchpreis gewonnen hat.

Das ausgezeichnete «Blutbuch» wurde gelobt, kritisiert und interpretiert. Die zahlreichen Hasskommentare dazu im Netz blieben nicht unerwähnt, genauso wenig wie die harten Sexszenen im Buch, die Rasur vor laufenden Kameras und der Brief an Bundesrat Ueli Maurer.

Die Lust der freien Wahl

Dann steht Kim de l’Horizon leibhaftig da. Im roten Kleid, mit goldener Halskette und fettem Ohrring. Kim ist geistreich, belesen, wortgewandt sowieso, aber auch witzig.

Humor sei wichtig, sagt de l’Horizon. Und bricht in Gelächter aus, als die Frage gestellt wird, was sich in den letzten zwei Monaten seit der Preisverleihung in Frankfurt verändert habe: «Ich musste mir mehr Schminke kaufen».

Grell geschminkt, farbig gewandet, den Schnauz getrimmt und mit goldenem Schmuck behängt. Keine Frage, Kim de l’Horizon fällt auf.

«Körper wie ich repräsentieren die pure Freiheit. Wir sagen: Guck mal, du kannst jeden Tag entscheiden, wie du dich anziehen willst.» Darauf hätte eigentlich viele Menschen Lust: «Deshalb gibt es Karneval und 1980er-Jahre-Partys. Aber wir verdrängen diese Lust in temporale Räume ausserhalb des Alltags.»

Neue Sprach-Unterschlüpfe

Doch eigentlich will de l’Horizon lieber über das Schreiben sprechen als über Genderfluidität und Non-Binarität. Es würden immer alle danach fragen.

Zehn Jahre lang hat de l’Horizon an «Blutbuch» gearbeitet, einem sprachgewaltigen, nachdenklichen, brutalen und oft auch lustigen Roman, beziehungsweise «Anti-Roman», wie de l’Horizon den Erstling gerne bezeichnet.

Ähnlich wie die Philosophin Monique Wittig, die Heterosexualität in den 1970er-Jahren als politisches Regime bezeichnete, oder die Schriftstellerin Verena Stefan, der die bestehenden Wörter zu dürftig, zu ungenau erschienen, sucht auch de l’Horizon nach einer nicht-heteronormativen Sprache.

Es gehe darum, «Unterschlüpfe in das Bestehende zu hauen und dafür neue Wörter, neue Sinnlichkeiten zu formen, um sich selbst und die Welt wahrzunehmen.»

Der Hang zur Spaltung

De l’Horizon kritisiert den «Binaritätsfaschismus», der sich in der Geschichte der westlichen Welt spiegle: «Wir leben in Spaltungen. Es gibt Mann und Frau, damit der Mann die Frau dominieren kann.»

Es gäbe das Eigene und das Fremde, «damit das Eigene das Fremde dominieren kann. Menschen und Kultur und Natur, damit der Mensch die Kultur und die Natur dominieren kann.» Wer beherrsche, dominiere und zerstöre – und forme die Sprache nach seinem Gusto.

«Écriture fluide»

Dabei, so schreibt de l’Horizon, sei «das Element der Sprache das Flüssige, das Träge, das Tiefe, Latente» und nennt diesen Stil «écriture fluide», eine Sprache, die Körper und Geist verbindet, nicht den Geist vom Körper trennt.

«Ich glaube nicht an abgeschlossene Körper, an Individuen, ich glaube, dass alles mit allem verbunden ist. Befinden wir uns in einem Raum, atmen wir uns gegenseitig ein und aus, Energie fliesst, sie geht nicht verloren.»

Und wie geht es jetzt weiter? «Ich schreibe weiter, für die Befreiung von Körperlichkeit, für mich, für die Welt. Nicht für solche Preise.»

SRF 1, Sternstunde Philosophie, 18.12.2022, 11:00 Uhr.

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