Im Steckbrief von Johann Abraham Gruner aus dem Jahr 1768 steht: «Er ist seiner sehr gut gerahtener Beine wegen kentlich.» Bevor die Fotografie aufkam, waren Steckbriefe das Medium, mit welchem die Polizei Verbrecher und Verbrecherinnen suchte. Entsprechend enthielten sie viele Beschreibungen von körperlichen Merkmalen – etwa zu Haarfarbe, Augenfarbe, Zähnen, Narben, Gang oder Postur.
«Gewaltiges Weibsbild»
Diese Steckbriefe dienten Historiker Norbert Furrer als Grundlage für seine Forschung. Er sammelte Merkmale aus den Jahren 1715 bis 1800 und fasste sie in Tabellen zusammen. Seine Erkenntnisse hat er im Buch «Der Körper des gemeinen Mannes» veröffentlicht.
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Bild 1 von 5. Porträts konnten sich normalerweise nur Leute von Stand leisten. Doch Maler Josef Reinhard zeigte in seinen Trachtenbildern auch die einfache Bevölkerung – wie in «Eine Hochzeit Bern Petter Hürst, J. Anna Kilcher [i. e. Beyeler] in Gugisberg», 1791. Bildquelle: Bernisches Historisches Museum, Bern. Foto Stefan Rebsamen .
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Bild 2 von 5. Josef Reinhard, «Bern Benedicht Glauser von Jegenstorf, Elisabeth Senn, Kammer Käzchen», 1791. Bildquelle: Bernisches Historisches Museum, Bern. Foto Stefan Rebsamen .
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Bild 3 von 5. Josef Reinhard, «seines Alters 9[0] Hanss Bat vom Mützigen, F[rau] Anna Lory, im Canton Bern», 1790. Bildquelle: Bernisches Historisches Museum, Bern. Foto Stefan Rebsamen .
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Bild 4 von 5. Josef Reinhard, «Johannes Müller und Jungfrau Cathrina Leüthold in Mejen Ringen im Candon Bern», 1790. Bildquelle: Bernisches Historisches Museum, Bern. Foto Stefan Rebsamen .
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Bild 5 von 5. Josef Reinhard, «Hans Dähler Seckell Meister, Hassly im Grund, F[rau] Anna Otth», 1790. Bildquelle: Bernisches Historisches Museum, Bern. Foto Stefan Rebsamen .
Die analysierten Steckbriefe stammen aus dem Bernbiet und betreffen 663 Männer und 50 Frauen. «Frauen waren offenbar weniger verbrecherisch als Männer, oder liessen sich weniger oft erwischen», sagt Furrer. Über eine Frau heisst es beispielsweise, sie sei «ein gross und vier geschrotes gewaltiges Weibsbild von ohngeferd 30 à 35 Jahren».
Auch wenn es sich bei den Steckbriefen um verbrecherische Menschen handle, so seien diese nicht Aussenseiter, sondern durchaus repräsentativ für das einfache Volk, sagt der Historiker. «Die meisten waren nicht Schwerverbrecher, sondern haben einfach etwas gestohlen.»
Milch und Körpergrösse
Aus den gesammelten Daten ergibt sich ein Bild, wie die Berner Bevölkerung im 18. Jahrhundert ausgesehen haben dürfte. Manche der Erkenntnisse erstaunen nicht. Etwa, dass die Menschen damals kleiner waren, als wir es heute sind. Männer wurden im Schnitt 1.60 bis 1.65 Meter gross, Frauen waren 10 Zentimeter kleiner als Männer.
Allerdings gab es regionale Unterschiede, welche der Ernährung geschuldet waren. In milchproduzierenden Gegenden wie im Obersimmental waren die Bewohner im Schnitt 1.70 gross, während in Aarwangen, also einer Gegend, die in erster Linie Getreide produzierte, die Menschen im Schnitt nur 1.59 gross waren.
Gemäss den zusammengetragenen Daten bekamen Männer im Bernbiet im 18. Jahrhundert viel später graue Haare und weniger Glatzen, als dies heute der Fall ist. Die Gründe müssten im Heute gesucht werden, so Furrer.
Wer davon ausgeht, dass unsere Berner Vorfahren alle am Hungertuch nagten, liegt falsch. Rund 70 Prozent werden in den Steckbriefen als «korpulent» und «dick» bezeichnet und nur 30 Prozent als «mittelmässig», «schlank» oder «mager».
Lächeln mit Lücken
Was ebenfalls erstaunt, ist, dass in 80 Prozent der Steckbriefe die Rede ist von «weissen» Zähnen. War die Zahnhygiene also doch nicht so schlecht, wie bis anhin angenommen? «Jein», sagt Norbert Furrer. Denn nur etwa die Hälfte der Gebisse seien als «vollständig» beschrieben worden.
In der Geschichtswissenschaft sei der Körper bis anhin etwas vergessen gegangen, sagt Furrer. Dabei liessen sich vom Aussehen einige Rückschlüsse auf den Zustand einer Gesellschaft ziehen.
Norbert Furrer beschäftigt sich mit der Frühneuzeit, das heisst, dass sein Forschungszeitraum nur bis 1800 reicht. Allerdings habe er auch fürs 19. Jahrhundert bereits eine Tabelle mit Merkmalen aus 1688 Berner Steckbriefen erstellt. Die Vorarbeit wäre also geleistet, falls sich jemand wissenschaftlich mit «wohlgesetzten Zänd» und «gut gerathenen Beinen» auseinandersetzen möchte.