Er hat über tausend Leichen gesehen und unzählige Fälle bearbeitet: Peter Schnieders war Kriminalhauptkommissar in Köln und 43 Jahre lang dem Bösen auf der Spur. «Es schlummert in uns allen», sagt Schnieders, der über seine Arbeit bei der Polizei zwei Bücher geschrieben hat. Nur ein einziges Mal in seinem Leben habe er beinahe die Beherrschung verloren, erzählt er im Gespräch.
SRF: Herr Schnieders, Sie waren über 40 Jahre lang beruflich dem Bösen auf der Spur. Was fasziniert Sie am Bösen?
Peter Schnieders: Mich interessiert, wie ein Mensch dazu kommen kann, einen Mord zu begehen oder andere schreckliche Dinge zu tun.
Wie ist dieser Mensch aufgewachsen? In welchem Umfeld lebte er? Und was löste die Tat aus? Und dann ist da noch der Tod, der mich ebenso fasziniert.
Was fasziniert Sie denn am Tod?
Die Art, wie er eintritt. Ich will genau wissen, wie eine Person ums Leben gekommen ist. Konkret bedeutet das: Ich komme an einen Tatort und da liegt im Bett eine Leiche, blutüberströmt, mit Messern niedergemetzelt und im Auge des Opfers steckt der Pfeil einer Armbrust.
Wie bitte?
Sehen Sie, jetzt sind Sie neugierig geworden und möchten wissen: Was ist da passiert? Warum eine Armbrust? Warum ins Auge? Und warum die Messerstiche? So fängt meine Arbeit an.
Oder mit dem Mann, der mit seinen drei Kindern auf ein Hochhaus steigt und diese nacheinander hinunterwirft. Und was ist mit dem Vater, der sein zehn Monate altes Kind mit 18 Messerstichen tötet?
Gewöhnt man sich über die Jahre an den schrecklichen Anblick am Tatort?
Ich habe das Glück, ein robustes Naturell zu haben. Denn wissen Sie: Es gibt keine schönen Leichen. Zum schrecklichen Anblick kommt noch der ekelhafte Geruch hinzu. Den hat man nicht, wenn man Krimis schaut und liest.
Es liegt an der Persönlichkeit eines Menschen, ob das Böse irgendwann geweckt wird oder nicht.
Ich hatte in meinem Leben aber noch nie einen Albtraum und bin auch nicht tabletten- oder drogenabhängig geworden. Das liegt wohl einfach in meiner Natur. Wäre ich anders, hätte ich diesen Job nicht machen können.
Gab es Fälle, die Ihnen dennoch nahegingen?
Ja. Ein Mann hat seine Freundin und den gemeinsamen Sohn erstochen. Ich kam also an den Tatort und da lag dieser Junge, der genau so aussah wie mein vierjähriger Enkel.
Da war meine professionelle Distanz weg. Und zwar ganz. Wenn der Täter am Ort gewesen wäre, hätte ich für nichts garantieren können.
Nach all den Jahren, in denen Sie täglich mit dem Bösen zu tun hatten: Wissen Sie, woher es kommt?
Aus meiner beruflichen Erfahrung muss ich Ihnen sagen: Das Böse schlummert in jedem Menschen. Es liegt an der Persönlichkeit eines Menschen, ob dieses Böse irgendwann geweckt wird oder nicht.
Es gibt aber Menschen, die sind von Grund auf böse. Das behaupte ich. Ob ein genetischer Defekt oder schlechte Erfahrungen in der Kindheit die Ursache dafür sind, kann ich nicht beurteilen.
Was zeichnet denn diese bösen Menschen aus?
Ich habe mit Tätern gesprochen, die sind eiskalt. Einer etwa hat aus reiner Habgier, für zwei Millionen Euro, eine Frau erschossen und anschliessend auch ihren Freund beseitigt. Davor hat er jahrelang als Betrüger gelebt, Senioren ausgeraubt und so weiter.
Heute gibt es keine Grenzen mehr.
Solche Leute sitzen ihre Strafe ab, ohne Reue und Schuldgefühl. Wie etwa der Mann, der zwei Frauen getötet und sie nach dem Tod sexuell missbraucht hat. Dafür hat er acht Jahre gesessen. Heute ist er wieder draussen und führt ein seriöses bürgerliches Leben. Damit habe ich grosse Mühe.
Sie waren über 40 Jahre bei der Verbrechensbekämpfung im Einsatz. Was ist Ihr Eindruck: Hat die Gewalt zugenommen?
Ja, definitiv. Zu Beginn meiner Zeit gab es das so genannte «Kölner Milieu» noch, Zuhälter und Hehler. Aber da gab’s noch gegenseitigen Respekt, auch vor der Polizei.
Es gab auch körperliche Auseinandersetzungen, aber die hatten eine Grenze. Heute gibt es keine Grenzen mehr. Wenn jemand auf dem Boden liegt, wird weitergetreten.
Woran liegt das?
Manche vermuten, das liege an den Unmengen an gewalttätigen Filmen und Computerspielen. Ich weiss es nicht.
Ich stelle aber fest, dass der Respekt vor Obrigkeiten kaum noch vorhanden ist. Heute werden Rettungssanitäter oder Ärzte gewalttätig angegriffen. Da hat sich schon fundamental etwas verschoben.
Hat Ihre Arbeit Sie als Mensch über die Jahre verändert?
Man wird vorsichtig, um nicht zu sagen: misstrauisch. Man lernt, genau hinzuschauen und Menschen einzuschätzen. Man gewinnt schnell einen Gesamteindruck. Wäre ich nicht so bescheiden, würde ich sagen, ich sei ein guter Menschenkenner.
Das Gespräch führte Yves Bossart.