Wie lange dauert eine Revolution? Das ist die Frage, die in Algerien derzeit viel diskutiert wird. Seit fast einem halben Jahr dauern die Massenproteste gegen die amtierende Regierung Algeriens schon an. Nach wie vor erobern hunderttausende Menschen jeden Freitag die Strassen, um ihre Forderungen nach Gerechtigkeit und Demokratie kundzutun.
Auch die algerische Filmemacherin Sofia Djama ist unter den Protestierenden. Sie verweist einerseits auf die elastische Auffassung von Zeit, die im afrikanischen und mediterranen Land herrschen. Andererseits auch auf die problematischen Vorstellungen von Demokratie der Bevölkerung.
«Wir haben in der Schule gelernt, Demokratie sei das totalitäre Recht der Mehrheit. Die Minderheiten und ihre Anliegen haben da keinen Platz», sagt sie. «Wir lernen erst jetzt, was Minderheitenschutz bedeutet. Solche demokratischen Werte zu entwickeln braucht Zeit.»
Die Gesellschaft hat gelitten
Die Zivilgesellschaft, die für die Demokratie notwendig ist, hat in Algerien unter der jahrzehntelangen staatlichen Repression sowie unter dem Bürgerkrieg der Neunzigerjahre enorm gelitten.
Für die Schriftstellerin Wassyla Tamzali war vor allem die Zerstörung des kulturellen Lebens ein Schock. «Als ich 2001 nach Algerien zurückgekehrt bin, habe ich das Land kaum wiedererkannt», sagt sie.
«Viele Kulturinstitutionen wie etwa die Cinémathèque Algérienne, ein wichtiger Treffpunkt für Begegnungen und Gespräche, waren geschlossen. Diese Räume der Freiheit waren einfach verschwunden.»
Öffnung nach der Entfremdung
Tamzali hat die Initiative ergriffen und in Algier das Kulturzentrum «Les Ateliers Sauvage» gegründet. Dieses hat sich zu einem wichtigen Ort des gesellschaftlichen Lebens in der Hauptstadt entwickelt.
«Die Künstler öffnen unseren Geist, um uns zu zeigen, wer wir sind. Die postkoloniale Zeit hat uns von uns selbst entfremdet. Von unseren Gefühlen, von der Liebe, ja selbst von der Menschlichkeit, was etwa am Umgang mit uns Frauen deutlich wird.»
Raum für Freiheit
Als sich die Künstlerinnen und Künstler Algiers im Zuge der Aufstände dazu entscheiden, öffentliche Debatten zu organisieren, ist für Tamzali klar: Dies muss auf der Strasse stattfinden.
«Wir waren über Jahre unfrei in diesem Land und plötzlich hat sich ein Raum für Freiheit geöffnet», sagt die Schriftstellerin. «Davon müssen wir maximal Gebrauch machen. So sind die Debatten auf den Treppen des Théâtre National Algérien entstanden.»
Jeden Montag versammeln sich vor dem imposanten Kolonialbau im Stadtzentrum alle Interessierten, um gemeinsam Themen wie Gewaltenteilung, Minderheitenschutz oder die Gleichstellung der Geschlechter zu diskutieren.
Das Problem? Die Bürger
Was auf Grund von jahrzehntelangem Versammlungsverbot undenkbar war, ist plötzlich real geworden. Es ermöglicht der Bevölkerung, was für jede Demokratie grundlegend ist: Das freie Gespräch über Formen des Zusammenlebens.
Für Tamzali ist die Revolution daher nicht bloss politisch, sondern vor allem auch gesellschaftlich. «Natürlich ist die Politik in Algerien ein Problem», sagt sie. «Ich behaupte jedoch, dass zunächst wir Bürgerinnen und Bürger selbst das Problem sind. Wir brauchen Zeit, um an unseren Konzeptionen von Individualität, Freiheit und Solidarität zu arbeiten.»