«Nicht mit uns», sagten in Belgien die Betreiber von Kinos, Theatern und Konzertsälen und ignorierten die staatlichen Anordnungen zur Schliessung wegen Corona. Die Regierung von Alexander De Croo sah sich mit einem nie dagewesenen zivilen Widerstand von Kulturschaffenden konfrontiert – und ist nun zurückgekrebst.
Was genau ist das los in Belgien? Die Einschätzungen von Charles Liebherr, SRF-Korrespondent in Brüssel, über eine Debatte, die über Landes- und Branchengrenzen hinausgeht.
SRF: Was war der Auslöser für den zivilen Ungehorsam der Kulturbetriebe?
Charles Liebherr: Anlass war ein Dekret der belgischen Regierung, welches kurz vor Weihnachten alle Kulturveranstaltungen verbot, aber nicht verordnete, Läden oder Restaurants zu schliessen.
Diese Massnahme sei unverhältnismässig, hiess es sofort von den Betroffenen, aber auch von Parteien und Politikern, die in der belgischen Regierung vertreten sind. Das Dekret sei zudem diskriminierend, weil nur der Kultursektor betroffen war. Ein Sektor, der schon die ganze Pandemie über wenig Unterstützung in der Politik spürte.
Nicht einmal die wissenschaftlichen Berater hatten eine sofortige Schliessung von Kinos, Theatern und anderen Kulturbetrieben gefordert. Warum entschied sich die Regierung De Croo trotzdem dafür?
Letztlich war es ein fauler politischer Kompromiss, wie er in Belgien nicht selten ist. Politisch sind die Verantwortlichkeiten auf mehreren Ebenen verteilt, die sich auch teilweise überschneiden.
Der Entscheid, kurz vor Weihnachten Kulturhäuser zu schliessen, war einfach zu viel.
In diesem Fall war es eine politische Absprache zwischen dem liberalen Premier der nationalen Regierung und dem nationalistischen Ministerpräsidenten der Region Flandern. Dieser wollte nichts wissen von der vorzeitigen Schliessung von Restaurants. Was in diesem Ringen übrig blieb, war dieser faule politische Kompromiss, dass einzig Kulturveranstaltungen verboten wurden.
Trotz dieses Verbotes hatten Kinos, Theater und Clubs weiterhin geöffnet. Die Bevölkerung zeigte sich solidarisch mit der Kulturbranche, auch die Polizei griff nicht ein. Hat die Kultur in Belgien einen Sonderstatus?
Nein, da kamen mehrere Sachen zusammen: die allgemeine Kritik an der nationalen Regierung über die Coronapolitik, dann die Kritik am Funktionieren der belgischen Politik ganz allgemein in dieser Krise, die unklaren Kompetenzen, die politischen Spiele zwischen Regionen und Zentralstaat. Und schliesslich dieser Entscheid, kurz vor Weihnachten Kulturhäuser zu schliessen. Das war einfach zu viel. Darum dann die heftigen Proteste über Weihnachten.
Nun ist die Regierung von Alexander De Croo zurückgekrebst. Gestern Abend hat das oberste belgische Verwaltungsgericht einem Eilantrag zugestimmt. Kulturveranstaltungen dürfen wieder stattfinden. Wie ordnen Sie diese Entwicklung ein?
Hinter dieser umstrittenen administrativen Verfügung, die jetzt von einer Richterin aufgehoben wurde, steht eine ganz grundsätzliche staatsrechtliche Debatte. Da geht es um Fragen zum Funktionieren eines demokratischen Staates.
In jeder funktionierenden Demokratie muss abgewogen werden, ob ein politischer Entscheid verhältnismässig ist.
Der Aufschrei war entsprechend gross unter Verfassungsrechtlern in Belgien. In deren Augen haben sich Politiker über das Recht stellen wollen. Das stellt den Rechtsstaat infrage. Darum ist es eine sehr wichtige Debatte, die momentan in Belgien geführt wird und die auch über Belgien hinaus seine Bedeutung hat.
Könnte nun das Beispiel Belgien Schule machen und auch auf andere europäische Kulturszenen übergreifen?
Ja, ich denke, dass die Debatte in Belgien gut ist für eine öffentliche Debatte, wie politische Entscheidungen getroffen werden – auch im scheinbar so unwichtigen Kultursektor. Eine Debatte darüber, ob diese Massnahmen demokratisch legitimiert sind. Ob alles mit rechten Dingen zugeht in einer Demokratie während einer Pandemie.
Diese Debatte wird in vielen Ländern geführt, auch in der Schweiz. Das muss über die Kulturszene hinausgehen. Und das tut es ja auch. In jeder funktionierenden Demokratie muss abgewogen werden, ob ein politischer Entscheid verhältnismässig ist. Ob er hilft, politische Ziele dem Gemeinwohl folgend zu erreichen. Und vor allem, dass das unabhängige Gerichte überprüfen können. Darum ist diese Debatte hier in Belgien in meinen Augen sehr aufschlussreich.
Das Gespräch führte Gisela Feuz.