Um den Literaturnobelpreis, «Echo» oder die «Swiss Music Awards» gab es im Jahr 2018 viele Skandale und Diskussionen: Wie können Jurys transparenter werden? Wie werden Preisträger diverser? Wer ist preiswürdig, wer nicht? Jetzt ist wieder Preis-Hochsaison und immer mehr Institutionen sind gezwungen, ihre Vergabepraxis zu überdenken.
Der Kulturwissenschaftler und Kulturpreis-Experte Andreas Wiesand ist seit Jahrzehnten Beobachter von Kulturpreisvergaben und die Debatten darüber. Im Gespräch erklärt er, woran die Preisverleihungen kranken und wie sich die Vergaben ändern müssen.
SRF: Wie heftig stecken Kulturpreise in der Krise?
Andreas Wiesand: Preise wie der Literaturnobelpreis oder der Echo sind die Spitze des Eisberges. Sie bekommen sehr viel mediale Aufmerksamkeit. Das sagt aber wenig aus über die Basis, die vielen Preise, die Tag für Tag vergeben werden. Aber ich muss sagen: Weil Skandale zu Preisvergaben nun mal dazugehören, stecken Preise eigentlich in einer permanenten Krise.
Mit Ihrem Handbuch der Kulturpreise und der Homepage kulturpreise.de haben Sie die Übersicht. Wie viele Kulturpreise konnten Sie in Deutschland zählen?
Da immer wieder neue Preise gegründet werden, komme ich mit dem Zählen kaum nach. Aber grob würde ich sagen, dass es in Deutschland 2600 – 2700 Kulturpreise gibt, die überregionale Bedeutung und einen gewissen Namen haben.
Die meisten Jurys sind leider wenig risikofreudig.
Wenn ich auch die Förderpreise mitzähle, komme ich auf bis zu 5000.
In der Schweiz hört man immer wieder die Kritik, es gäbe eine «Preisflut», wodurch sich die Auszeichnungen auch gegenseitig entwerten. Gibt es Ihrer Meinung nach zu viele Kulturpreise?
Das hängt von der Sparte ab. Für Choreografinnen oder Kinderbuchautoren gibt es zum Beispiel eher wenige Preise. Allgemeine Kulturpreise gibt es dafür tendenziell zu viele. Diese stehen dann in der Konkurrenz um mediale Aufmerksamkeit.
Mir macht es Sorge, dass die Jurorinnen und Juroren oft sehr kulturfromm entscheiden.
Es hängt auch davon ab, ob wir in die Städte schauen oder aufs Land: Man darf nicht vergessen, welche hohe Wirkung ein Kulturpreis in einem Landkreis erzielen kann, wo es sonst nichts Anderes gibt.
Preise dienen nicht nur den Künstlerinnen und Künstlern, sondern stellen auch jene ins Scheinwerferlicht, die ihn vergeben. Was ist aus Ihrer Sicht die Funktion von Kulturpreisen?
Preise sind ein Kommunikationsmedium: Sie informieren die Öffentlichkeit. Und damit haben sie immer auch die Funktion der Kanonbildung, sie legen also fest, was zu einer bestimmten Zeit in einer bestimmten Sparte als relevant und «gut» gilt. Manche Preise allerdings haben nur Marketingfunktion, die Lifetime Achievement Awards am Zurich Film Festival zum Beispiel. Diese haben vor allem die Funktion, Promis anzulocken und darüber Aufmerksamkeit für das Festival zu generieren – die eigentliche Leistung des Ausgezeichneten wird nicht sichtbar.
Wie sieht denn in der deutschen Preislandschaft der durchschnittliche Juryentscheid aus?
Die meisten Jurys sind leider kaum risikofreudig. Das hat damit zu tun, dass sie ihre Entscheidungen aus einem Konsens heraus treffen. Das klingt zuerst sympathisch, aber oft bedeutet das, dass das Jurymitglied mit dem längsten Atem am Ende seinen Kandidaten oder seine Kandidatin durchdrückt.
In der Literatur sind die Zahlen rückläufig. Wir sind in Deutschland bei unter 30 Prozent prämierter Autorinnen, das ist weniger als 1986. Als hätte die Gender-Debatte nie stattgefunden!
Mir macht es Sorge, dass die Jurorinnen und Juroren oft sehr kulturfromm entscheiden und sich auch stark den Vorgaben der Organisation anpassen, die den Preis vergibt – das grenzt manchmal fast schon an Selbstzensur.
Im Nachgang der Oscars oder des Ernst-von-Siemens Musikpreises wird immer wieder über mangelnde Diversität bei den Preisträgerinnen und Preisträgern diskutiert – zu viele weisse Männer bekommen Preise. Können Sie da - gerade im Rahmen von #MeeToo - Veränderungen ausmachen?
Ausser beim Literaturnobelpreis hat sich #MeeToo kaum in den Strukturen der Preise und ihren Juryentscheiden niedergeschlagen. Durch unsere Kulturpreis-Datenbanken können wir in Deutschland auch einen längeren Zeitraum beobachten als nur das letzte Jahr: In der bildenden Kunst zum Beispiel gab es in den letzten Jahren positive Entwicklungen: Über 40 Prozent der Preisträger sind Frauen. In der Literatur hingehen sind die Zahlen rückläufig. Mittlerweile sind wir da in Deutschland bei unter 30 Prozent prämierter Autorinnen. Das ist weniger als 1986. Das muss man sich mal vorstellen, als hätte die Gender-Debatte nie stattgefunden!
Wie müssen sich Preise erneuern, um mit der Zeit zu gehen?
Ein Punkt ist, dass darüber nachgedacht werden muss, wie Kulturpreise auch digitale Möglichkeiten einbeziehen können, um die Öffentlichkeit mitentscheiden zu lassen – fortan sollten das nicht mehr nur die klassischen Jurys sein. Ein weiterer Punkt ist, dass Eigenbewerbungen für Preise möglich werden müssen – gerade kleine Städte klagen immer wieder darüber, dass sie keine Preisträgerinnen und Preisträger finden. Und zu guter Letzt finde ich, dass sich Kulturpreise mehr nach Europa öffnen müssen. Die Zeiten, in denen sie nur eine Region oder Nation repräsentieren sind vorbei.
Das Gespräch führte Theresa Beyer und Monika Schärer.