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Landesstreik von 1918 Robert Grimm – Vater des Landesstreiks wider Willen

November 1918: Der Sozialdemokrat Robert Grimm ruft zum landesweiten Generalstreik auf. Grimm trifft diesen Entscheid eher widerwillig. Dass es zum Streik kommt, ist mehr der Angst der bürgerlichen Politiker vor rotem Terror geschuldet.

Januar 1918: In der Schweiz, obschon verschont vom blutigen Krieg in Europa, sind die Lebensbedingungen hart. Von den knapp 4 Millionen Einwohner leiden 700'000 unter Mangel an Lebensmitteln. Sie holen ihr Essen in Suppenküchen, die die Behörden einrichten.

Mehr Lebensmittel – sofort

Der sozialdemokratische Nationalrat Robert Grimm organisiert im Februar 1918 in Olten eine Konferenz. Die Teilnehmer gründen das «Oltener Aktionskomitee».

Das Aktionskomitee fordert eindringlich eine bessere Lebensmittelversorgung: «Wird diesem Verlangen nicht innerhalb zweimal 24 Stunden entsprochen, ist sofort der Landesstreik zu proklamieren.»

Frauen und Kinder stehen Schlange vor einer Tür. Sie tragen alle Milchkesseli.
Legende: Frauen und Kinder warten in Basel auf die Ausgabe von Lebensmitteln. Stadtarchiv Basel

Die Streikdrohung wird zurückgenommen

Das Aktionskomitee trifft sich noch viele Male, allerdings nie mehr in Olten. Der Druck auf den Bundesrat steigt. Er beginnt mit Robert Grimm zu verhandeln.

Nach und nach erfüllt die Regierung eine Reihe der Forderungen. Die Löhne steigen langsam. Zudem verbessert sich im Sommer 1918 die Lage der Arbeiterklasse, da eine langersehnte Getreidelieferung aus den USA eintrifft.

Die sozialdemokratische Partei konstatiert befriedigt, der Bundesrat habe «grosse Zugeständnisse» gemacht. Die Parteizeitung «Berner Tagwacht» schreibt, die Generalstreik-Drohung sei «als beendet zu betrachten».

Angst vor dem roten Terror

Doch der Erfolg der Sozialdemokraten alarmiert bürgerliche Kräfte. Sie treibt die Angst um vor der bolschewistischen Revolution in Russland, die mit blutigem Terror gegen das Bürgertum vorging. Die Machtübernahme der Sozialdemokraten in Deutschland und Österreich verunsichert zusätzlich.

Das Bürgertum erinnert sich mit Schaudern daran, dass Robert Grimm zu Beginn des Ersten Weltkriegs den russischen Revolutionär Lenin in die Schweiz geholt hat .

Männer stehen zusammen für ein Gruppenfoto. Alle in schwarzen oder grauen Anzügen.
Legende: Das Oltenener Aktionskomitee versammelt vor dem Militärgericht. Bundesarchiv Schweiz

Grimm wollte den friedlichen Machtwechsel

Zwar plante Grimm nie einen gewaltsamen Umsturz. Im Gegenteil: Bereits am ersten Abend, als Lenin in Bern eintraf, stritten sich die beiden darüber, wie die Revolution organisiert werden sollte.

Lenin trat für offene Gewalt ein. Grimm hoffte, die Masse der Arbeiter würden früher oder später die Macht friedlich erobern. Lenin schreibt später, Grimm sei «ein Schuft der Politik», ein «Schurke», dem «die Maske vom Gesicht zu reissen» sei.

Ein Spitzel schürt die Paranoia

Doch das Schweizer Bürgertum misstraut Robert Grimm. Die Armee schleust einen Spitzel ein an einem Kongress, den Grimm leitet. Der Spitzel berichtet, es sei beschlossen worden, «russische Verhältnisse in der Schweiz einzuführen».

Der Umsturz werde durch «ein telegraphisches Losungswort bekanntgegeben». Danach würden die Bundesräte verhaftet und Zeughäuser und Munitionsdepots gestürmt: «Es kommt ziemlich sicher zu einem ungeleiteten grausamen Guerilla-Bürgerkrieg.»

In Tat und Wahrheit ist der sogenannte Basler Arbeiterkongress ein friedlicher Anlass. Zwar dominieren zeitweise radikale Wortmeldungen, doch mit 277 gegen 4 Stimmen entscheiden sich die Kongressteilnehmer für Verhandlungen mit dem Bundesrat und gegen einen Generalstreik.

80'000 Soldaten zu den Waffen gerufen

Gestützt auf den Spitzelbericht beginnen Armee und Bundesrat eine Geheimplanung. Anfang November 1918 glauben sie, das Losungswort entdeckt zu haben.

Im "Volksrecht" findet sich eine fünfzeilige Meldung: «Jugendliche! Benutzt die Zeit des Versammlungsverbots zu eurer Bildung, lest, arbeitet, macht Wanderungen. In Bälde wird der Platzvorstand zu einer Aktion aufrufen. Rüstet euch, reserviert den 10. November.»

Der Bundesrat mobilisiert die Armee. Zu den 15‘000 Soldaten, die gegen Kriegsende noch unter Waffen stehen, kommen innert kürzester Zeit rund weitere 80‘000 Soldaten dazu.

Soldaten stehen auf einem Platz. Überall sind Gewehre gestapelt.
Legende: Mobilmachung in Bern: Soldaten warten auf ihre Befehle. Bundesarchiv Schweiz

Von der Mobilmachung überrumpelt

Das Oltener Aktionskomitee tagt in Bern, denkt zu diesem Zeitpunkt bereits über seine Auflösung nach, da es seine Ziele erreicht hat.

Es beschliesst einen eintägigen Proteststreik gegen die Mobilisierung der Armee und schreibt, es sei in einem «Augenblick, da unsere Bewegung sich in einem Ruhestadium befand», überrumpelt worden.

Die Zürcher Arbeiterbewegung bricht den Proteststreik nicht ab und demonstriert weiter. Das Militär antwortet mit Warnschüssen. Drei Arbeiter werden verletzt, ein Soldat stirbt.

Sendehinweis

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Ein Mann steht am Rednerpult mit erhobenem Zeigefinger. Hinter ihm sitzt der Ratspräsident.
Legende: SRF / /Severin Nowacki

100 Jahre nach den Ereignissen, welche die Schweiz 1918 erschütterten, realisiert SRF eine Doku-Fiktion, die Ursachen, und Folgen der gesellschaftspolitischen Krise behandelt. In den Hauptrollen der fiktionalen Szenen sind Schauspieler zu sehen, in Nebenrollen treten Bundesparlamentarier auf.

SRF 1, Donnerstag, 8. Februar 2018, 20:05 Uhr

Grimms Vermächtnis: Mehr als nur der Streik

Das Oltener Aktionskomitee muss reagieren, wenn es nicht die Kontrolle verlieren will: Robert Grimm entscheidet sich für den landesweiten Generalstreik.

In Grenchen sterben schliesslich drei Arbeiter, die Fronten verhärten sich. Mit diesem blutigen Ereignis geht Grimm in die Geschichtsbücher ein, obwohl er von einer friedlichen Revolution der Arbeiter träumte.

Sein Vermächtnis umfasst aber auch das, was die Streikenden forderten: ein Frauenstimmrecht, eine AHV, ein gerechteres Wahlsystem und die Kürzung der Arbeitszeit.

Robert Grimm erlebt die Umsetzung eines Teils dieser Forderungen noch. Er stirbt 1958, drei Jahre nach seinem Rücktritt als Nationalrat.

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