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Lautarchiv in Berlin Klingendes Erbe und sensible Altlast

Im Lautarchiv der Humboldt-Universität lagern Aufnahmen in rund 250 Sprachen – auch Stimmen aus Kriegsgefangenenlagern.

Aufnahmen von Liedern und Stimmen in Sprachen aus der ganzen Welt: Das Lautarchiv der Humboldt-Universität in Berlin umfasst ein umfangreiches akustisches Erbe, das im 20. Jahrhundert unter teilweise problematischen Bedingungen erworben wurde. Der Fundus ist nun digitalisiert und in einem kontrollierten Rahmen für Forschung und Kunst nutzbar.

Rund 7'500 Schellackplatten, 10'000 Blatt Begleitdokumentation, viele Schubladen voller Lieder und Sprechproben in über 250 Sprachen und Dialekten.

Lautarchiv der Humboldt-Universität in Berlin

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Das Lautarchiv der Humboldt-Universität in Berlin umfasst ein umfangreiches akustisches Erbe, das im 20. Jahrhundert unter teilweise problematischen Bedingungen erworben wurde – Aufnahmen von Liedern und Stimmen in Sprachen aus der ganzen Welt. Der Fundus ist nun digitalisiert und in einem kontrollierten Rahmen für Forschung und Kunst nutzbar.

Diese tönende Schatztruhe geht auf den deutschen Englischlehrer und Unternehmer Wilhelm Doegen zurück, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf die Idee kam, im neuen Format Schallplatte Fremdsprachen zu vermarkten: Er liess literarische Texte – zum Beispiel Ausschnitte aus Hamlet in Englisch – auf Schellackplatten pressen.

Ein Mann spricht im Hintergrund ein Text ein. Ein anderer hält ihn am Hals, damit er genau in den Trichter spricht.
Legende: Der deutsche Englischlehrer und Unternehmer Wilhelm Doegen zeichnete Texte und Stimmen auf – und presste sie auf Schallplatten. Lautarchiv der Humboldt-Universität zu Berlin

Diese verkaufte er im Hinblick auf einen modernen Sprachunterricht an preussische Staatsschulen. Zum Abspielen der Platten empfahl er den eigens dafür entwickelten Doegenschen Lautapparat und unter dem gleichen Label vertrieb er auch Begleithefte für den Unterricht.

«Wilhelm Doegen stand an einer Schnittstelle zwischen Wissenschaft, Pädagogik und selbstbewusster Vermarktung», sagt der Sammlungsleiter des Lautarchivs der Berliner Humboldt-Universität, Sebastian Klotz.

Die Vielfalt der Dialekte dokumentieren

Doegen tat sich nach seinem ersten Erfolg auf dem Plattenmarkt mit Sprachforschern zusammen und tingelte in einem Eisenbahnwaggon durchs Land, um weitere Texte und Stimmen aufzuzeichnen. Diesmal war er mit dem Ziel unterwegs, die Vielfalt der Sprachen und Dialekte zu dokumentieren.

Dabei reiste er auch in die Schweiz. So liess er sich in Bern im regionalen Dialekt die Wochentage aufzählen. Auch die Sprachgrenze hatte er im Visier: 1929 zeichnete er im Bahnhof Domodossola ein zweisprachiges, schweizerdeutsch-italienisches Wiegenlied auf.

Einen Kernbestand im Lautarchiv bilden Tonaufnahmen, die Wilhelm Doegen und seine Sprachforscher während des Ersten Weltkriegs in Kriegsgefangenenlagern aufnahmen, etwa im sogenannten «Halbmondlager-Lager» in Wünsdorf.

Dort waren muslimische Soldaten aus Übersee interniert, die für eine europäische Grossmacht in den Krieg gezogen waren. Hier wurde 1916 etwa ein tunesischer Landarbeiter vor den Aufnahmetrichter gestellt, der ein Lied aus seiner Heimat vorzutragen hatte.

Indische Elefanten und Gefängnisinsassen

In den 1920er-Jahren kamen Aufnahmen von Gefängnisinsassen dazu in der irrigen Annahme, dass sich der kriminelle Charakter von Menschen an deren Stimme ablesen liess. Auch Häuptlingsgesänge fanden Eingang in dieses Archiv ebenso wie Aufnahmen von indischen Elefanten und sibirischen Bären.

Alles in allem handelt es sich also um eine disparate Sammlung, die teilweise unter problematischen Bedingungen entstanden ist, um ein klingendes Erbe, das zugleich auch eine sensible Altlast ist.

Zwei Männer in Anzügen. Der einen hält einen Text vor sich und spricht in einen grossen Trichter.
Legende: Prof. Gragger bei Sprechaufnahmen in der Lautabteilung der Preussischen Staatsbibliothek zu Berlin. Rechts neben ihm Wilhelm Doegen. Getty Images / ullstein bild

Es reiht sich ein in die Objekte in europäischen Museen und ethnologischen Sammlungen, die sich weisse Händler und Missionare in den Kolonien angeeignet haben. Die Debatte, ob solche Objekte wieder in die Herkunftsländer zurückgegeben werden sollen, hat eben erst begonnen.

Viele Künstler interessiert

Seit der Bestand des Lautarchivs der Berliner Humboldt-Universität digitalisiert ist, klopfen Forscherinnen und Künstler aus dem In- und Ausland an. Welche Projekte mit historischem Originalton aus dem Lautarchiv unterstützt werden – dafür gebe es noch keinen ausgearbeiteten Kriterienkatalog.

Leute nehmen die Geräusche eines Elefanten auf.
Legende: Im Lautarchiv befinden sich auch Aufnahmen von sibirischen Bären – und indischen Elefanten. Getty Images / ullstein bild

Ein Entscheid werde nicht von einer Person allein gefällt und ein Gesuch genau geprüft, sagt der Sammlungsleiter des Lautarchivs Sebastian Klotz. Ein Kriterium sei, dass das Material nicht für nationalistische Interessen missbraucht werde und im Idealfall in Projekte einfliesse, in denen Wissenschaftler und Künstlerinnen aus den Herkunftsländern beteiligt sind.

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