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Jugendliche und Beruf: Von der Corona- in die Lehrstellenkrise?
Aus Kontext vom 27.08.2020. Bild: KEYSTONE / JEAN-CHRISTOPHE BOTT
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Lehrstellenkrise Wie Lehrbetriebe und Lehrlinge die Corona-Krise meistern

Von der Corona-Krise in die Lehrstellenkrise? Was es braucht, damit die Berufsbildung in diesen Zeiten nicht baden geht.

Bis 2025 werde es in der Schweiz bis zu 20 Prozent weniger Lehrstellen geben, prognostiziert der Bildungsökonom Stefan Wolter von der schweizerischen Koordinationsstelle für Bildungsforschung.

Bereits für das laufende Jahr ist mit einem Rückgang von knapp vier Prozent der Lehrstellen zu rechnen. Wie aber sieht es in der Praxis aus? Wie haben diejenigen, die sich im Alltag um die Lehrlingsrekrutierung kümmern, auf die Corona-Krise reagiert?

Beispiel 1: Berufslernverbund Thal-Mittelland

Im Berufslernverbund Thal-Mitteland (siehe Textbox) sind normalerweise 30 Lehrstellen pro Jahr in technischen Berufen zu vergeben – Polymechaniker, Konstrukteurinnen, Automatiker, Logistiker und mehr. Mitte März waren 16 Verträge unter Dach und Fach.

Dann kam der Lockdown, und Schnupperlehren in den Betrieben – sozusagen das Herzstück der Rekrutierung – fielen von einem Tag auf den anderen weg. Geschäftsführerin Eva-Maria Stalder erzählt: «Wir sind quasi in eine Schockstarre gefallen, denn unsere Ausbildungsbetriebe haben über Nacht ihre Türen zugemacht; wir konnten also keine Abklärungen vor Ort mehr vornehmen.»

Fachkräfte-Ausbildung im Verbund

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Im Berufslernverbund Thal-Mittelland mit Sitz in Solothurn erhalten angehende Fachkräfte ihre berufliche Grundbildung. Dem Verbund angeschlossen sind 70 kleine und mittlere Unternehmen, die zwar Lernende ausbilden, aber nur einen Teil der Ausbildung leisten wollen oder können. Die Hauptverantwortung für die Lernenden übernimmt der Verbund.

Zunächst wollte sich der Verbund mit den 16 abgeschlossenen Lehrverhältnissen zufriedengeben. «Doch dann hat uns der Ehrgeiz gepackt», so Eva-Maria Stalder, «und wir haben uns entschieden, unser Portfolio möglichst zu füllen.»

Blick in eine Werkstatt - zwei Lehrlinge sind am Arbeiten. Ein Lehrmeister schaut.
Legende: Christian Bohner (Mitte) leitet die Lehrwerkstatt des Berufslernverbundes Thal-Mittelland. Hier erhalten angehende Fachkräfte wie Polymechaniker, Automatiker oder Konstrukteure ihre Grundbildung. SRF

Das hiess, auf Bewährtes zu verzichten und sich auf unorthodoxe Wege einzulassen. Vorstellungsgespräche per FaceTime, dazu die Intuition: Dieser junge Mensch könnte passen. So gelang es dem Verbund, bis Mitte August zehn weitere Lehrstellen zu besetzen und an die Betriebe zu vermitteln.

Wie wissen die Ausbildner, welche Lehrstellensuchende sich für welche Berufe eignen? Eva-Maria Stalder sagt, sie verlasse sich auf ihr Bauchgefühl – das täusche sie in der Regel nicht.

Auf seine Erfahrung stützt sich auch Christian Bohner, der die Lehrwerkstatt des Berufslernverbundes leitet. Er sagt: «Wenn ich junge Menschen sehe, mit ihnen rede und interagiere, dann merke ich rasch, was in ihnen steckt.» So sei auf Anfang Schuljahr «ein sehr guter Lehrlingsjahrgang» zusammengekommen.

Lehrstellenangebot während Corona: Die wichtigsten Fragen

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Warum wird es schwieriger, eine Lehrstelle zu finden?

  • Die Corona-Epidemie führt zu einer wirtschaftlichen Rezession, die Jugendliche erfahrungsgemäss besonders stark betrifft. Denn manche Betriebe haben Mühe, Schnupperlehren anzubieten, Bewerbungsgespräche zu führen und Ausbildungsplätze bereit zu stellen, solange sie den Geschäftsgang ihrer Firma nicht abschätzen können.

Wie sie die Situation gegenwärtig aus?

  • Das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) verzeichnet bei den gesamtschweizerisch 55'000 abgeschlossenen Lehrverträgen per Ende Juni 2020 einen Rückgang von drei Prozent. Das sind im Vergleich zum Vorjahr rund 1700 abgeschlossene Lehrverhältnisse weniger.

Es heisst immer wieder, es gebe viele offene Lehrstellen?

  • In einzelnen Branchen gibt es nach wie vor offene Lehrstellen, etwa in der Gastronomie und im Holzbau.

Wie sieht die weitere Entwicklung aus?

  • Bis Ende Jahr rechnet der Leiter der Forschungsstelle für Bildungsökonomie der Universität Bern, Stefan C. Wolter, mit einem Rückgang der Lehrstellen um bis zu 4 Prozent.
  • Für die kommenden Jahre bis 2025 prognostiziert er sogar eine Abnahme um bis zu 20 Prozent.

(bits)

Beispiel 2: Restaurant «Löwen» in Messen, SO

Auch im Restaurant «Löwen» im solothurnischen Messen wird die Berufsbildung grossgeschrieben. Sieben Lehrlinge beschäftigt der traditionsreiche Familienbetrieb zurzeit – vier im Service, drei in der Küche. «Der Löwen ist als Lehrbetrieb sehr gefragt», sagt Wirt Sebastian Graber, «normalerweise sind die Stellen schon ein, manchmal zwei Jahre im Voraus besetzt.»

Ein Mann mit Kochhut ist dabei, Zöpfe zu backen und sein kleiner Sohn schaut zu.
Legende: Sebastian Graber führt das Restaurant «Löwen» in Messen in siebter Generation. Tradition ist im Löwen wichtig – auch in der Lehrlingsausbildung. Loewen-messen.ch

Doch während Corona war nichts normal. Das Restaurant musste schliessen, so wie alle Gastrobetriebe. Schnuppereinsätze, die bereits vereinbart waren, wurden abgesagt, in einem Fall mittendrin abgebrochen.

Arbeitswelten

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Wenig Lohn, die Angst vor Altersarmut, hohe Belastung oder Mobbing am Arbeitsplatz: Der Arbeitsalltag vieler Menschen in der Schweiz hat Schattenseiten.

«Kontext» thematisiert das in einer losen Folge von Sendungen in der Serie «Arbeitswelten».

Damit das Geschäft nicht ganz zum Erliegen kam, richtete der Löwen vorübergehend einen Takeaway ein. An neue Lehrlinge dachte der junge Wirt in dieser Zeit kaum: «Wir sorgten uns erst einmal darum, unsere Liquidität, unsere Lebensgrundlage hier sicherzustellen», so Sebastian Graber. So kommt es, dass eine Lehrstelle als Koch im Löwen noch offen ist. Bis zu den Herbstferien hat Graber noch Zeit, sie zu besetzen.

Fazit: Für das eben angelaufene Schuljahr 20/21 ist der Lehrstellenmarkt mit einem blauen Auge davongekommen. Ob die pessimistischen Prognosen eintreffen werden, weiss man heute nicht.

Kontext, Radio SRF 2 Kultur, 27.8.2020, 9.05 Uhr

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