Winter 2011. Beni hatte gute Vornoten, er wollte aufs Gymi, sein Bruder war schon dort. Uns Eltern war klar, ohne Unterstützung schafft die Prüfung kaum jemand. Das hiess: zu Hause üben.
An die Abendessen mit Pasta und dem Mathezettel mit Übungsaufgaben neben dem Teller erinnert sich heute noch die ganze Familie: Oberflächenberechnung. «En Guete.»
Hohes Niveau und grosser Zeitdruck
Im Januar 2012 geht Beni an die Gymiprüfung. Sie sei «sehr stressig, sehr intensiv und ungewohnt» gewesen, sagt mein heute 22-jähriger Sohn. «In der Primarschule hatte man eine Stunde Zeit für einen Test, höchstens zwei, jetzt einen ganzen Vormittag. Das Niveau war höher, der Zeitdruck grösser.»
Er habe sich besser und länger konzentrieren müssen, erzählt Beni: «Man brauchte Strategien, wie man in der Prüfung zurechtkommt. Sehr aufregend. Alles war neu und anders, die Menschen, die Räume, die Grösse der Schule.»
Als wir vor Kurzem seine alte Kanti besuchten und sein Klassenzimmer betraten, sagte er: «Es schmöckt no genau gliich.»
Kantonale Unterschiede
Zürich hat ein Modell mit Gymiprüfung. In Kantonen wie Basel-Stadt, Basel-Landschaft, Freiburg, Jura und Luzern gibt es keine Gymiprüfung.
In Bern wiederum besprechen sich Eltern und Lehrperson, letztere schlägt im Einvernehmen eine Schülerin oder einen Schüler fürs Gymi vor. Und auch beim Lang- und Kurzzeitgymnasium gibt es kantonale Unterschiede. (Angaben aus dem Bildungsbericht 2018. Die kantonalen Unterschiede, in Zahlen von 2018, sind beim Bundesamt für Statistik zu finden.)
Urs Moser , Professor für Bildungsevaluation an der Universität Zürich, findet das «Föderalismus pur» und wünscht sich mehr Übereinstimmung zwischen den Kantonen, was die Anforderungen betrifft: Ungerecht sei das sonst schon.
Auch der Schulleiter der privaten Zürcher Gesamtschule Unterstrass, Dieter Rüttimann , findet die Unterschiede «himmelschreiend».
«Mehr als 20 Prozent will man nicht»
Elsbeth Stern ist Professorin für empirische Lehr- und Lernforschung an der ETH Zürich und dort verantwortlich für den pädagogischen Teil der Ausbildung angehender Gymnasiallehrpersonen.
Sie findet: «In Zürich müssen Kinder zittern, die Eltern müssen zittern, in Bern müssen sie das nicht.» Dort gäbe es die reguläre Gymiprüfung nicht. Sie sehe aber keine Alternative zur Prüfung.
«Mehr als 20 Prozent will man nicht», und wenn man die 20 Prozent halten wolle, dann gäbe es keine andere Möglichkeit, als zu filtern. «Denn die Ressourcen wachsen nicht mit den Anmeldungen, weder die Schulhäuser, noch die Lehrkräfte. In Kantonen mit besonders viel Anmeldungen wird umso mehr gefiltert», sagt Stern.
Derzeit hört man in Zürich munkeln, dass es im Kanton 600 Anmeldungen für Gymnasien mehr hat als letztes Jahr. Offizielle Zahlen gibt es im Mai.
Die Ungerechtigkeitsdebatte sei ein Dauerbrenner – aber nicht zentral, sagen die Sachverständigen. Die Diskussion verstelle den Blick auf wichtige Fragen wie etwa: Wer entscheidet aufgrund welcher Kriterien, welchen Ausbildungsweg ein Kind einschlägt? Wie wirken sich die kantonal unterschiedlichen Zugangsbedingungen aufs Lernen, auf Lehrende und Lernende aus?
Bern versus Zürich
Was sind die Vor- und Nachteile, wenn man das Zürcher und das Berner Modell vergleicht?
Dieter Rüttimann findet das Zürcher Modell mit der Prüfung problematisch, «weil es eine Momentaufnahme eines einzigen Vormittags ist. Jene Kinder sind bevorteilt, die sich drei Stunden extrem konzentrieren können und wie Spitzensportler in einem Wettkampf ihr gesamtes Leistungspotenzial nicht nur abrufen, sondern wenn möglich noch übertreffen können.» Er bevorzuge darum das Berner Modell.
Urs Moser konstatiert, die Anforderungen seien im Kanton Zürich klar und transparent. Das wirke sich natürlich aufs Lernen aus. Alle wüssten, ohne Vorbereitung sei es im Kanton Zürich schwierig, aber in Bern möglich, ans Gymnasium zu gelangen.
Die Zürcher Prüfung habe nicht nur eine Auswirkung aufs Lernen: «Die Gymnasien möchten wissen, ob jemand bereit ist, einen besonderen Effort zu leisten. In Bern kommt es gar nicht zu einer solchen Stressphase beim Schulübertritt.»
Üben, üben, üben
Diesen «besonderen Effort», wie Moser das nennt, hat Beni geleistet. Es sei ein Morgen gewesen, von dem viel abgehangen habe. Der Druck war höher, das Niveau auch.
Eine so lange Prüfung habe er vorher noch nie erlebt. Deshalb habe er monatelang geübt. Als er die Prüfung geschafft habe, sei er erleichtert und stolz gewesen.
Prüfung als zusätzliche Chance
Elsbeth Stern glaubt, dass die beiden Modelle für die Lehrerinnen und Lehrer keinen grossen Unterschied machen: «Die sind alle unter Druck, wenn sie nicht die Noten geben, die den Eltern gefallen. Egal ob in Bern oder Zürich. Traditionsgemäss beschweren sich eher Eltern, die selber eine akademische Bildung haben, und die sehr bestrebt sind, dass ihre Kinder die auch bekommen.»
Stern sieht die Zürcher Prüfung positiv: «Man kann durch die Aufnahmeprüfung etwas wettmachen. Das ist eine zusätzliche Chance. In Bern ist das Urteil der Lehrerin entscheidend. Aber so gross dürfte der Unterschied gar nicht sein.»
Der Leistungsdruck sei im Berner Modell nicht geringer, denn die Selektion verschiebe sich auf die gymnasiale Schulzeit, sagt Moser. Eine gymnasiale Ausbildung ohne Leistungsdruck gebe es sowieso nicht.
Die Prüfung in Zürich «minimiert die Zufälligkeit des Ausbildungswegs». Wer sie schafft, ist erstmal an der richtigen Schule.
Nur gute Schüler an die Unis
Für Elsbeth Stern ist eine grundsätzliche Frage die, wie man zu guten Schülerinnen und Schülern komme. Denn sie beobachtet seit Jahren, dass an der ETH schlechte Abgänger ihr Studium beginnen, «Leute, die da nicht hingehören.» Studierende, die von den Eltern «da hingedrängt wurden» und mit viel Unterstützung «durchgetragen wurden».
Ganz egal ob Zürich oder Bern, Elsbeth Stern sagt, man müsse die Schülerinnen «rannehmen», sonst gebe es zu viele schlechte Studierende: «Wenn Leute sagen, sie haben das Gymnasium geschafft, ohne jemals zu lernen, dann spricht das nicht für das Gymnasium. Wir haben an der ETH öfter Studierende, die überall ihre Sechser hatten und dann erstaunt sind, dass man an der ETH wirklich in die Vorlesung gehen und vor- und nachbereiten muss. Das hätten sie früher nicht nötig gehabt.»
Gute Lehrerinnen und Lehrer sind für Stern das A und O. Deren Qualifikation und Ausbildung sei entscheidend: «Dann machen sie guten Unterricht und haben ebenso gute Argumente, wenn Eltern ihnen auf die Pelle rücken, die ihr Kind aufs Gymnasium drücken wollen, obwohl es da nicht hingehört.»
Falsche Annahmen der Eltern
Dieter Rüttimann beobachtet in den 46 Jahren, die er als Lehrer tätig ist, dass für manche Eltern gelte: «Bildung ist Status. Manchmal sind die Eltern wichtiger bei der Entscheidung des späteren Lebensweges als die Kinder selber.»
Er sei auch mit Eltern konfrontiert, die vom französischen Modell mit einer Baccalauréat-Quote von bis zu 80 Prozent ausgehen. Da frage er sich einerseits: «Was sollen die denn alle arbeiten?» und andererseits müsse er diesen Eltern immer wieder erklären, dass die Quote in der Schweiz eine andere sei.
Der Anspruch, «Mein Kind muss aufs Gymnasium», sei weder vom System zu leisten noch für jedes Kind sinnvoll: «Es geht manchen Eltern auch um Prestige.»
Moser meint: «Die Mehrheit akademischer Eltern hält das Langzeitgymi noch immer für die Königsdisziplin» und tue damit nicht jedem Kind einen Gefallen.
Maturandinnen und Maturanden sind die Minderheit
Das Schweizer Bildungssystem ist anders aufgestellt als das deutsche oder französische. «In der Schweiz gehört man, wenn man kein Gymi besucht, nicht zu einer Minderheit, sondern zur Mehrheit», sagt Stern. Dass eine Lehre minder bewertet werde, habe viel mit dem Statusdenken von Eltern mit akademischem Vorlauf zu tun.
Elsbeth Stern erzählt von einem Professorenkollegen, von dessen fünf Kindern vier eine Lehre machen. Dieser werde in angelsächsisch-universitären Kontexten gefragt, ob die vier behindert seien. Stern: «Sowas kann nur ein Studierter fragen.» Vieles sei von Implikationen und falschen Vorstellungen geprägt.
In einer Untersuchung der ETH hat Elsbeth Stern mit ihrem Team herausgefunden, dass, wenn man zur oberen soziokulturellen Hälfte der Gesellschaft gehört, die Chance viermal so gross ist, bei gleicher Intelligenz aufs Gymnasium zu kommen, als wenn man zur unteren Hälfte gehört. (Die Ergebnisse bestätigt auch der Bildungsbericht 2018, S. 159 ff.)
«Das hat zwei Probleme», sagt Stern. Man verschenke Begabungen und man lasse Leute aufs Gymnasium und dann an die Universität, die eigentlich nicht die Voraussetzungen mitbringen und die dann auch dafür sorgen, dass das Niveau sinkt. «Die Gesellschaft hat ein Problem, wenn nachher Leute in Entscheidungsfunktionen kommen, die nicht intelligent sind», so Stern.
Und in Zukunft?
Dieter Rüttimann ist überzeugt, dass sich einiges ändern muss – auch am Unterrichtsstil. Wir fixierten uns in der Gesellschaft und der Politik zu stark auf das Solo-Lernen, auf die Solo-Leistung, findet er, dabei seien es eine Unmenge von Teams, die etwas bewirken.
«Wir müssen den Kindern und Jugendlichen fachübergreifende Problemstellungen vorlegen, an denen sie lernen, wie man gemeinsam Probleme lösen kann. Sie müssen flexibel denken können und auf andere eingehen mit Respekt, Wertschätzung und Vertrauen. Das sind Kernelemente erfolgreicher Zusammenarbeit, sie führen zu hohen Leistungen.»
Beni sagt, er habe auf dem Gymnasium methodisch gute, fachkompetente Lehrer gehabt. Da sei noch «dieses Selbstlernsemester gewesen, lernmässig mein bestes Semester».
An seiner Schule hatte man ein Semester viel unterrichtsfreie Zeit, musste aber jede Menge Aufgaben erfüllen: «Ich musste mich selbst organisieren, strukturieren, mich mit anderen zusammenschliessen, ich habe Pläne gemacht, Ziele definiert und rausgefunden, wie ich am besten lerne. Das hat mir fast am meisten gebracht.»
Beim Besuch der alten Kanti im April sitzen wir am Schluss auf einer Bank an der Freitreppe. Beni sagt: «Es war eine tolle Zeit. Die richtige Entscheidung.»