Liu Xiaobo wurde 1955 geboren. Er hat Hungersnöte erlebt, die Kulturrevolution, die Öffnungspolitik unter Deng Siau Ping und die Demokratiebewegung mit ihrem traurigen Höhepunkt 1989 auf dem Platz des Himmlischen Friedens.
All das habe den späteren Friedensnobelpreisträger geprägt und sich auch in seinem umfangreichen lyrischen und essayistischen Werk niedergeschlagen, sagt Hans Peter Hoffmann, Sinologe an der Universität Mainz.
«Das lyrische Werk, das sich seit 1989 um seine Erfahrungen im Gefängnis und im schwer auf ihm lastenden Gedenken an die Toten vom Platz des himmlischen Friedens dreht, ist nur ein kleiner, wenn auch nicht unbedeutender Teil seines umfangreichen Schaffens», sagt Hoffmann. «Er brachte Hunderte von Aufsätzen und ein gutes Dutzend Bücher und Publikationen im Bereich Kultur, System und Gesellschaftskritik hervor.»
Missstände auf den Punkt gebracht
Das Besondere sei gewesen, dass Liu Xiaobo niemanden geschont habe – weder die Mächtigen noch die Vertreter der Intellektuellen-Kaste in China.
«Unverwechselbar ist seine präzise, unerschrockene, zuweilen scharfe und pointierte politische und gesellschaftliche Analyse», erklärt Hoffmann. «Besonderes Gewicht verleiht den Analysen seine Bereitschaft, ohne Rücksicht auf die eigene Unversehrtheit und auch Freiheit, für seine Ansichten einzustehen.»
Dabei sei Liu Xiaobo kein Literat im westlichen Sinn gewesen, der mit sprachlicher Kunstfertigkeit Missstände auf den Punkt gebracht habe. Seine Lyrik und Essayistik war vielmehr eine Art «Zweckliteratur», die weniger künstlerischen Ansprüchen genügen wollte, als den politischen Zielen: ein liberaleres und demokratischeres China.
Wie sehr der Autor allerdings in China tatsächlich eine Rolle spielte, ist unter Sinologen umstritten. So sagt etwa Wolfgang Kubin, emeritierter Sinologe an der Universität Bonn und seit sechs Jahren in China lebend, dass Liu Xiaobo Wirkung im Westen völlig überschätzt werde. Der Verstorbene sei in China kaum wahrgenommen worden.
«Kein einziger von mir geschätzter chinesischer Literat hat jemals von sich aus das Gespräch auf ihn gebracht», sagt Kubin. «Nur deutsche Journalisten.»
Die Fans im Westen
Liu Xiaobo Popularität im Westen sei darauf zurückzuführen, dass man sich im Westen nach Dissidenten sehne, nach Identifikationsfiguren für ein demokratischeres und offeneres China.
«Er wird in China nicht wahrgenommen», sagt Kubin. «Er existiert nur für die deutschsprachige Presse, vielleicht auch für die englischsprachige.»
Widerspruch erntet Wolfgang Kubin dafür von Hans Peter Hoffmann. Es sage genug, dass Liu Xiaobo jahrelang unter Hausarrest gestellt wurde, ins Gefängnis musste, dass man ihn todkrank nicht ausreisen liess. «Das kann nicht ein Zeichen für seine Bedeutungslosigkeit sein, sondern eher dafür, wie gross die Angst vor der Wirkung ist, die ein Mann wie er hat», so Hoffmann.
Westliche Massstäben
Wolfgang Kubin überzeugt diese Begründung nicht. Die chinesische Staatsmacht habe wohl deshalb derart unwürdig und unmenschlich mit Liu Xiaobo verfahren, weil sie dessen Aufbegehren schlicht nicht dulden wollte.
Dass der Verstorbene deswegen in China ein einflussreicher Intellektueller gewesen sein soll, sei damit keineswegs gesagt.
In der unterschiedlichen Bewertung des Wirkens Liu Xiaobo zeigt sich vielleicht noch etwas Anderes, nämlich mit welchem Blick wir im Westen auf China schauen. Bewerten wir es nach unseren Massstäben in Sachen Demokratie und Menschenrechten und rücken in unserer Wahrnehmung einen Intellektuellen wie Liu Xiaobo ins Zentrum, dem wir uns geistig verwandt fühlen?
Oder stellen wir ratlos fest, dass die chinesische Führung einen in unserer Sicht fragwürdigen Umgang mit den Menschenrechten pflegt? Und trotz kritischen Stimmen wie derjenigen Liu Xiaobos weiterhin pflegen kann.