Bis vor wenigen Wochen war New York eine Stadt, deren sprichwörtliche Energie sich davon nährte, dass sich 8,5 Millionen Menschen Tag und Nacht aneinander rieben.
Zoff in der Waschküche
Buchstäblich: In den vollgepackten Subways, beim Schlangestehen vor dem neusten angesagten Schuppen, in den Waschsalons, wo die New Yorker, deren Wohnhäuser nicht über eigene Wäschekeller verfügen (also die überwiegende Mehrheit) sich regelmässig um die wenigen funktionierenden Maschinen und Trockner stritten. Das Coronavirus und der damit verbundene Lockdown haben all dem ein Ende gesetzt.
Bis vor wenigen Wochen war New York eine Stadt, in der jederzeit alles zu bekommen war: eine Pediküre um drei Uhr morgens, hawaiische Cocktails zum Frühstück, Stand up-Comedy und roher Keksteig als Kombiangebot am frühen Abend.
Was man zum Überleben braucht
Jetzt macht man sich keine Gedanken mehr darüber, was man möchte, um sich zu vergnügen. Man hat Angst, im Notfall nicht das zu bekommen, was man zum Überleben braucht.
Wird für mich ein Bett in einem der überfüllten Spitäler frei sein, sollte mir etwas zustossen? Oder wird man mich in einem der Zelte unterbringen, die für Kranke im Central Park aufgestellt worden sind? Wobei das immer noch besser ist, als in einer der 45 mobilen Leichenhallen zu landen, die an der 30. Strasse aufgefahren worden sind. Ganz zu schweigen von den Massengräbern, die die New Yorker Behörden in ihren Katastrophenplänen vorgesehen haben.
Der Frühling ist eine der schönsten Jahreszeiten in New York. Wer Glück und ein Fenster in seiner schuhschachtelgrossen Wohnung hat, das nicht auf einen Luftschacht geht, kann vielleicht ein paar Magnolien und Ginkgo-Bäume beim Erblühen beobachten.
Frühling für den Schwarzmarkt
Doch das einzige Blühen, das einen im Moment wirklich interessiert, ist das des Schwarzmarktes. Die Bagel-Bäckerei, die als Lebensmittelgeschäft noch geöffnet haben darf, verkauft unter der Hand Toilettenpapier. So der Tipp einer Nachbarin.
Die Schreibwarenhandlung, die auch Postdienste versieht und deshalb ebenfalls offen ist, soll noch über Gesichtsmasken verfügen. Sechs Dollar das Stück. Dabei sind alle Unternehmen, vom Nagelstudio bis zur Autowerkstatt eigentlich per Dekret dazu verpflichtet, ihre Bestände bei den örtlichen Krankenhäusern abzuliefern. Dort fehlt es an allem.
New York wird das Coronavirus überleben. Natürlich. Aber gilt das auch für den Obdachlosen Jerry, der jeden Morgen im Rollstuhl an seiner Ecke sass und darauf wartete, dass ihm jemand einen Kaffee spendierte? Für Amir, der den Foodtruck mit dem Halal-Menü gegenüber der nun geschlossenen Moschee an der 11. Strasse betrieb?
Der Stadt fehlt die Nähe
Nach 9/11 umarmten sich in dieser Stadt Wildfremde, um sich gegenseitig zu trösten. Während der legendären Stromausfälle tanzten die New Yorker zusammen auf den Avenues.
Nach dem Supersturm Sandy halfen sie einander beim Auspumpen der überfluteten Keller. Doch in dieser Krise ist ihnen das genommen, was bisher den Charakter dieser Stadt ausgemacht hat: die Nähe ihrer Bewohner zueinander.
Diese Nähe ist manchmal amüsant, oft nervtötend, immer unvermeidlich. Man wünscht sie sich sehnlicher zurück als alles andere.