Frankreich sieht sich seit Monaten mit der Revolte der «Gilets jaunes» konfrontiert. Der französische Staatspräsident Emmanuel Macron hat unter dem Druck der Strasse Eingeständnisse gemacht, die die Rolle Frankreichs in der Europäischen Union tangieren. Thomas Maissen, Schweizer Historiker in Paris, über ein Signal mit Folgen.
SRF: Die «Gilets jaunes» brachten an manchen Wochenenden mehrere 100'000 Menschen auf die Strasse. Unter diesem Druck hat Macron sozialpolitische Zugeständnisse für über 11 Milliarden Euro gemacht. Damit dürfte Frankreich die Grenze der Verschuldung überschreiten, welche die Europäische Union zulässt. Was bedeutet das für die Position Frankreichs in der EU?
Thomas Maissen: Aus deutscher Sicht ist das problematisch, weil sich Frankreich damit unter die Mittelmeerländer wie Italien, Griechenland und Spanien einreiht, die grosse Budget-Schwierigkeiten haben.
Vielleicht wird man im Rückblick sagen, es sei ein kluger Schachzug gewesen.
Es ist auch ein Signal, dass Macron an seinen Reformen nicht festhält, sondern Konzessionen macht: Er ist eingeknickt.
Er hat die Mineralölsteuer zurückgenommen, die als sinnvolle ökologische Massnahme gedacht war. Da Macron nicht anderweitig für steuerliche Entlastung gesorgt hat, sahen sich viele Franzosen durch diese zusätzliche Steuer als Milchkuh für den Staat.
Schwächt Macron damit seine Führungsrolle in Europa?
Vielleicht wird man im Rückblick sagen, es sei ein kluger Schachzug gewesen. Er sei damit seinen Gegnern entgegengekommen, habe sich innenpolitisch stabilisiert und so auch weiterhin eine starke aussenpolitische Rolle spielen können.
Ich könnte mir vorstellen, dass sich eine ‹Allianz der Willigen› entfaltet.
Die Herausforderungen in Europa sind viel grösser als eine französische Mineralölsteuer. Es geht um grundsätzliche Fragen. Ausser Macron sieht man wenige Politiker, die eine europäische Perspektive entwickeln möchten und können.
Ich könnte mir vorstellen, dass sich eine «Allianz der Willigen» entfaltet, an der sich kleine Staaten in Skandinavien oder in Mittel- und Osteuropa beteiligen. Aber ohne französische, ohne deutsche Lokomotive dürfte das schwer werden.
Mitglieder der «Gelbwesten» wollen sich in diesem Jahr ins Europaparlament wählen lassen. Haben sie bei der Wahl eine Chance?
Schon die Frage, ob und wie sie sich an der Wahl beteiligen wollen, legt offen, wie disparat die Bewegung ist. Auch wenn einzelne Gruppierungen daraus antreten – effektiv wird ihre Wahlbeteiligung aber nur einem nutzen, nämlich Emmanuel Macron.
Denn die Stimmen für die «Gilets jaunes» gehen den Extremen am rechten und linken Rand verloren – dem «Front National» und der «France Insoumise». Insofern kann sich Macron nur wünschen, dass die «Gilets jaunes» antreten.
Neuerdings kommt Macron auch aussenpolitisch in Bedrängnis. Die «Gelbwesten» werden von der italienischen Regierungspartei «Cinque Stelle» unterstützt. Ist das lediglich ein Verstoss gegen die diplomatische Etikette – oder geht es um mehr?
Dass sich die italienische Regierung, also ein Gründungsmitglied der europäischen Integrationsbewegung, in dieser Form gegen eine befreundete Regierung in Frankreich wendet, ist wohl präzedenzlos. Es ist ein sehr beunruhigendes Zeichen.
Hier wird die Aussenpolitik durch die «Cinque Stelle» instrumentalisiert, um innenpolitisch in einer Koalition zu punkten, in der ihr die Felle davonschwimmen.
Wenn die europäischen Regierungen anfangen, sich gegenseitig über die Opposition in den jeweiligen Ländern infrage zu stellen, dann bricht dieses europäische Projekt sehr schnell mangels Vertrauens auseinander.
Das Gespräch führte Sabine Bitter.