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Männerforscher im Gespräch Sei ein Mann! Nur wie?

Verärgert, verunsichert, auf der Suche nach ihrem Platz: Männer im Speziellen und die Männlichkeit generell stecken in der Krise, heisst es. Stimmt das? Der Männer- und Gewaltforscher Rolf Pohl erklärt, was Mannsein heute bedeutet – und nimmt das vermeintlich «starke» Geschlecht in die Pflicht.

Rolf Pohl

Soziologe und Sozialpsychologe

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Rolf Pohl ist Emeritus der Soziologie und Sozialpsychologie der Universität Hannover. Seine Themenschwerpunkte waren Männlichkeits- und Geschlechterforschung, Jugendforschung und politische Psychologie. Unter anderem forschte er über sozialpsychologische Fragen zu NS-Tätern.

SRF: Alle reden von einer Krise der Männlichkeit. Sie auch?

Rolf Pohl: Männlichkeit war bislang immer gebunden an die Erwartung einer lebenslangen Erwerbsperspektive. Das hat sich durch ökonomische und gesellschaftliche Erosionen stark verändert und zu einer grossen Verunsicherung geführt.

Feindseligkeit von Männern gegenüber Frauen ist der Versuch, die real empfundene Schwäche zu kompensieren.

Die Folge ist allerdings nicht, dass sich Männer jetzt auch kritisch mit den Veränderungen und dazugewonnenen Perspektiven auseinandersetzen. Stattdessen werden die Frauen und der Feminismus zum Feindbild erklärt.  

Woran orientieren sich Männer heute?

All die klassischen Klischees, die mit der traditionellen Männlichkeit verknüpft sind, gehören zum Idealbild von Männlichkeit: Dominanz, Überlegenheit, Durchsetzungsvermögen, Konkurrenz, Wettbewerbsfähigkeit, teilweise auch Egoismus und mangelnde Empathie.

Das heisst aber nicht, dass die Mehrheit der Männer dieses Idealbild auch verkörpert. Gerade das ist das Problem: Weil das nicht so ist, aber das Ideal da ist, gibt es eine Lücke, die kompensiert werden muss.

Resultiert Hass von Männern auf Frauen also aus der Unzufriedenheit mit der eigenen Unzulänglichkeit?

Ja. In dieser Lücke des Idealbilds lauern die Ursachen für irrationale Gegenbewegungen, Feindbilder, Projektionen und letztlich auch Gewaltbereitschaft. Gewalt von Männern gegenüber Frauen wird nicht unbedingt aus der Position des Stärkeren heraus begangen. Vielmehr ist die Feindseligkeit der Versuch, die real empfundene Schwäche zu kompensieren.

Über Jahrhunderte wurde in unserer christlich-abendländischen Kultur ein überkommenes Idealbild gepflegt. Heutzutage gilt es als «toxisch».

Es ist nicht definiert, was mit «toxischer Männlichkeit» gemeint ist. Erstmals tauchte der Begriff in den 1980er-Jahren im Umfeld einer US-amerikanischen Männerbewegung auf.

Eines sollte der Mann nicht tun: die Frauen und den Feminismus für die Verunsicherung verantwortlich machen.

Heute ist damit zum Teil gemeint, dass Männer mit ihrem Verhalten nicht nur andere, sondern vor allem sich selbst schädigen: Sie leiden an Depressionen, sterben früher und müssen auch noch in den Krieg ziehen. Das heisst: Mit dem Begriff kann auch Täter-Opfer-Umkehr betrieben werden. Und das ist meiner Ansicht nach ein grosses Problem.

Ist es allein Sache der Männer, ein neues Männerbild zu kreieren?   

Problematisch finde ich Männergruppen, wenn sie gewinnorientiert sind und den Anspruch erheben, das Problem zu lösen im Sinne von: «Wir Männer ziehen uns selbst aus dem Sumpf.» Ich plädiere eher für gesamtgesellschaftliche Lösungen auf der Basis struktureller Analysen.

Nehmen Sie dabei die Männer selbst mit in die Verantwortung?

Es sind grosse Herausforderungen, die an den Mann gerichtet sind. Nur eines sollte er nicht tun: die Frauen und den Feminismus für die Verunsicherung verantwortlich machen. Und sich beklagen, dass man als Mann nichts mehr dürfe, nicht flirten oder Komplimente machen. Männer müssen Unsicherheiten und Widersprüche zulassen und aushalten lernen.

Wir befinden uns in einer grossen Umbruchphase. Braucht es noch Geschlechterkategorien und -normen?

Die Wahrnehmung dieses Unterschieds ist zunächst mal ein wichtiger Entwicklungsvorgang. Ohne die Wahrnehmung und die Verarbeitung von Differenzen würden wir keine Persönlichkeit, keine Individualität und keine Subjektivität entwickeln können.

Das grosse Problem ist: Wie kommt es, dass diese Wahrnehmung von Unterschieden fast reflexartig immer mit Bewertungen einhergeht? Also eine Selbstaufwertung aus der männlichen Perspektive und eine Fremdabwertung hinsichtlich der Weiblichkeit?

Verändern sich diese Geschlechternormen mit dem Generationenwechsel?

Ich bin da pessimistisch. Auch wenn sich in den Beziehungen und Sozialisationsbedingungen nach Aussen hin viel verändert, sind die Prägungen über Generationen hinweg doch wirksam und wirkmächtig. Oft auch gegen die bewusste Einstellung und die aufklärerische Haltung der Erziehenden.

Wir können nicht erwarten, dass sich das mit einer oder zwei Generationen fundamental wandelt. Das beobachten wir an der ungebrochenen Kontinuität von Alltagssexismus, vor allem an der hohen Zahl von sexualisierter Gewalt und Übergriffen.

Das Gespräch führte Katrin Becker.

SRF 1, Sternstunde Philosophie, 15.10.2023, 11:00 Uhr ; 

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