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Die Kunst der Täuschung
Aus Kulturplatz vom 31.05.2023.
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Mensch und Maske Warum Täuschung uns ausmacht – und wie man sie entlarvt

Zwischenmenschlich und gesellschaftlich, politisch und kulturell: Täuschen gehört zum Alltag. Warum ihr nicht mal ins Gesicht sehen?

«Liebling, wie war dein Tag?» «Du, ich glaube, der Chef hat mich heute angelogen! Da erzählt der mir doch tatsächlich … für wie blöd hält der mich?» Schon rollt eine echauffierte Geschichte ab.

Das ist natürlich keine Antwort auf die Frage: «Wie war dein Tag?» Täuschung geht uns nach – und sei es nur der Verdacht. Sie dominiert unsere Erinnerung. Aber sogar das ist eine Täuschung: Wir erinnern nicht den Tag, sondern den Moment.

«Das ist ein Überlebensinstinkt»

Tuule Grolig hat an der Universität Zürich am Institut für Psychologie über Täuschung geforscht. Eine Untersuchung zeige, dass bei einem Kennenlerngespräch von zehn Minuten Dauer durchschnittlich mehr als zweimal gelogen wird.

«Wir alle betreiben das täglich», sagt Grolig. «Wir sind Fachleute, andere zu täuschen, das ist ein Überlebensinstinkt.» So vermeidet man vielleicht einen Schaden, den man befürchtet. Oder man verschafft sich einen Vorteil.

Eine blonde Frau mit Brille in hellblauem Hemd, lächelnd
Legende: Wir täuschen täglich – manchmal auch uns selbst, sagt Tuule Grolig, die seit einigen Jahren am Psychologischen Institut der Universität Zürich zum Thema forscht. Bruce Fowler Yim / bfy photo

Und wir können nicht allen und allem permanent misstrauen, sonst würden wir durchdrehen. «Deshalb glauben wir anderen. Das ist auch ein Überlebensinstinkt», sagt Grolig.

Manchmal täuschen wir uns auch selbst. Das merken wir aber erst hinterher. Der Mensch ist so manches, manchmal eben auch ein getäuschter Täuscher.

Die Täuschung hat Tradition

Täuschung ist Alltag, Teil unserer Kultur. Man denke nur an das hölzerne Ross in Troja. Oder an die Erfindung der Perspektive in der Malerei, die uns vorgaukelt, etwas Zweidimensionales habe Tiefe.

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Archiv: Kunst zwischen lustvoller Täuschung und jähem Schrecken
aus Künste im Gespräch vom 03.02.2022. Bild: Onorato & Krebs
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Shakespeare setzt sie im Theater, der grössten Täuschung, in «Hamlet», sogar ein, um die Wahrheit ans Licht zu bringen, um den Mörder von Hamlets Vater zu «entlarven». In dem Wort steckt «Larve», die Maske im Mittelalter. Die Illusionsmedien Film, Fernsehen, Video, die uns reales Leben vortäuschen, sind in gewisser Weise Trompe-l'œils, «Augentäuschungen». Spiegelkabinette, Geisterbahnen, Zauberer.

Aktuell populär: die «Ehrlich Brothers», ein Zauberkünstler-Duo aus Deutschland. Kunstfälschende operieren mit dem Prädikat «täuschend echt», man denke an den ehemaligen Fälscher Wolfgang Beltracci. Seit Jahren malt er Prominente wie Harald Schmidt. Echt jetzt.

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Archiv: Wolfgang Beltracchi porträtiert Harald Schmidt
Aus Kultursendungen vom 08.07.2015.
abspielen. Laufzeit 29 Minuten 28 Sekunden.

Es geschieht am helllichten Tag

Täuschung hat Tradition, die bis ins Heute, ins Zwischenmenschliche, Alltägliche reicht. Wir alle sind Profis. Täuschung ist nicht immer gleich Betrug. Sie ist auch legitimer Bestandteil des Zwischenmenschlichen und erleichtert das Zusammenleben, wie etwa die Höflichkeit.

Nehmen wir an, der Chef vom Anfang des Artikels steht abends vor der Tür. Dann sagen wir höflich: «Das mit den Blumen wäre aber nicht nötig gewesen.» Und verkneifen uns die Bemerkung: «Ein Bonus hätte auch gereicht.»

Paarbeziehungen sind genauso von Täuschungsmanövern durchsetzt: «Gefällt dir mein neues Kleid?» «Mit welcher Antwort habe ich eine Chance?», denkt das paartherapiegeübte Gegenüber. Begonnen hat das vielleicht viele Jahre vorher mit dem Satz: «Bis dass der Tod euch scheidet.»

Ein Mann und eine Frau halten sich die Hände und zeigen ihre Eheringe.
Legende: Eine der wahrscheinlich grössten Lügen unserer Gesellschaft: das Ja-Wort, das ein Leben lang gelten soll. In der Schweiz werden vier von zehn Ehen wieder geschieden. KEYSTONE/Gaetan Bally

Täuschung ist auch beruflicher Alltag: «Seien wir mal ehrlich», lautet eine grassierende Hülse in Meetings. Was waren denn alle bis dahin? Und was sagt das über die, die das sagen?

Wie erkennt man Täuschungen?

Tuule Grolig hat seit ihrer Doktorarbeit an der Erkennung von wahren und falschen Absichten gearbeitet, ob Menschen die Wahrheit sagen oder lügen über ihre Absichten, was sie in der Zukunft tun werden.

Es gibt Absichten wie morgen einkaufen zu gehen oder Wäsche zu waschen: «Die brauchen wir nicht wirklich zu planen. Wir haben uns auf Absichten konzentriert, die ein gewisses Mass an Planung erfordern und die nicht allzu weit in der Zukunft liegen.»

Lügner haben ihre Lügen einstudiert.
Autor: Tuule Grolig Psychologin

Wenn Menschen erzählen, ist es schwer herauszufinden, ob sie Lügner sind oder «Wahrheitssprecher», wie es in der Forschung genannt wird. Das ist Zufall wie beim Werfen einer Münze.

Das liegt auch daran, dass Wahrheitssprechende Antworten geben, die traditionelle Hinweise auf Täuschung enthalten, weil «unser Gehirn diese rekonstruktive Natur hat und dabei teilweise die Vergangenheit falsch rekonstruiert», wie Grolig sagt. Manchmal haben wir einfach etwas vergessen. «Dann rufen wir falsch ab. Lügner hingegen haben ihre Lügen einstudiert.»

Durch passives «Erzählen lassen» lassen sich Lügende und Wahrheitssprechende also nicht zuverlässig unterscheiden. Wie dann?

Das Lügen lesen lernen

Deshalb setzt Grolig eine Intervention ein, eine «strategische Befragung» und stellt eine ganz bestimmte Art von Fragen, die Lügner und auch Wahrheitssprecher nicht erwarten. «Lügner bereiten sich ihr ganzes Leben vor. Das macht es ihnen leichter, zu lügen. Für Fachleute und auch für Laien ist dies schwer erkennbar.»

Unvorhersehbare Fragen bringen Lügende aus dem Tritt. «Spontane Lügen enthalten mehr Hinweise für eine Täuschung», sagt Grolig. «Wir haben festgestellt, dass wir mit dieser Art von Fragen Unterschiede zwischen Lüge und Wahrheit herausfinden.»

Ein weiterer Ansatz sei der strategische Einsatz von Beweisen, um Unstimmigkeiten in den Aussagen herauszufinden.

Hinterher sind immer alle schlauer

Im grösseren gesellschaftlichen Kontext sind Täuschungsmanöver durchchoreografierte Inszenierungen, vor allem dann, wenn es um Betrug geht. Der beginnt mit einem medialen Hype, verspricht für viele das Blaue vom Himmel, setzt auf eine charismatische Hauptfigur wie zum Beispiel Ruja Ignatova.

Die sogenannte «Kryptoqueen» verleitete drei Millionen Anlegerinnen und Anlegern zum Kauf ihrer «OneCoin»-Währung. Das Ganze stellte sich jedoch als Schneeballsystem heraus. Ignatova verschwand mit 15 Milliarden US-Dollar spurlos. Heute ist sie die meistgesuchte Frau der Welt.

«Lügen ist anspruchsvoll»

Wie und wieso geht sowas? Müsste man nicht ahnen, dass etwas faul ist? Im Falle «Ruja Ignatova» steht eine Frau mit durchschlagender Überzeugungskraft im Zentrum, die Reichtum und Erfolg repräsentierte, die sie gar nicht hatte.

Grolig sagt, sie habe in der Vergangenheit gesehen, dass manche Täterinnen und Täter bereits das Leben der Lüge gelebt haben, um zu üben und eine Identität so zu verinnerlichen, dass sie ihre Geschichten am Schluss selber glauben, «denn Lügen ist kognitiv sehr anspruchsvoll».

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Archiv: Darf ich lügen?
Aus Bleisch & Bossart vom 15.07.2021.
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Deshalb sei es extrem schwierig, frühzeitig die Lüge zu erkennen. Hinzu komme, sagt Grolig, dass es vielleicht Anzeichen gibt, man könne aber nur schwer verlässliche Aussagen über die Zukunft machen. Es seien oft nur Annahmen. Immer gebe es Gründe, Anzeichen für eine Lüge zu übersehen.

Man kann die Gründe Hoffnung nennen oder Gier. «Zu schön, um wahr zu sein», sagt der Volksmund. Aber es wird geglaubt. Auch das gehört zur Spezies Mensch, dass sie sich Illusionen macht. Grolig sagt: «Ob etwas eine Täuschung ist oder nicht, wissen wir häufig erst hinterher. Das liegt in der Natur der Sache.»

Trump oder Täuschung in der Politik

Bei Donald Trumps Vereidigung im Jahr 2017 war der Platz vor dem Capitol halbleer. Trump behauptete das Gegenteil. Der Vergleich der Fotos war eindeutig. Aber seine Sprecherin liess verlauten, das seien «alternative Fakten». Die hätten einen Zweck, sagt Grolig, darin begründet sich auch ihre Wirkung.

Lufftaufnahme der Menschen vor dem weissen Haus bei der Inaugurationsfeier von Donald Trump.
Legende: Waren da jetzt mehr Leute als bei Obama? Die Inaugurationsfeier von Donald Trump im Jahr 2017 gilt auch als die Geburtsstunde des Begriffs «alternative Fakten». Keystone / LUCAS JACKSON

Mit den alternativen Fakten und Verschwörungstheorien sowie der Rhetorik Trumps bekamen Millionen Menschen ein einfaches Mittel in die Hand, der Komplexität der Welt, bei der man sich anstrengen müsse, sie zu verstehen, endlich wieder Herr zu werden. Eine alternative Wahrheit ergebe für viele Personen Sinn, sagt Grolig, obwohl sie nicht stimme.

Avatare im Anmarsch

Genauso wenig stimmt das, was das digitale und mediale Zeitalter befördert, nämlich den «Fake». Dating Profile zum Beispiel werden frisiert. Nicht immer freiwillig. Eine Akademikerin, zwei Doktortitel, hatte alles eingegeben, als sie ü50 eingeben wollte, sei ihr Profil gelöscht worden.

Seitdem ist sie jünger und hat nur noch einen Titel. Sie hat sich gezwungenermassen runter gelogen. Andere lügen sich freiwillig rauf. Sie pimpen ihren Lebenslauf, behaupten Kompetenzen. Politikerinnen und Politiker in Deutschland stolperten und stolpern immer wieder über abgeschriebene Doktorarbeiten. Vieles von dem, was da behauptet wird, ist «aufgehübscht»: Ich bin mein Avatar.

Zeitalter der Simulation

Immer weniger ist, was es zu sein verspricht im Zeitalter der Simulation. Der französische Medientheoretiker, Philosoph und Soziologe Jean Baudrillard sagte einmal sinngemäss und vor langer Zeit, im Zeitalter der Simulation sei Realität nur noch eine Legierung. Ein Gemisch aus Fakten, Erfundenem, subjektiven Sichtweisen, medialer Repräsentanz.

Ein Mann mit Brille vor einem Bild, das Marilyn Monroe zeigt
Legende: Wahrheit – das war einmal? Für den französischen Medienphilosophen Jean Baudrillard war Realität lange vor der Regierung Trump eine «Legierung». Getty Images / Ulf Andersen

All das gehört zusammengedacht: Wir leben in einer Kultur, die einerseits auf der Suche nach dem Wahren, Schönen und Echten sein mag, andererseits aber – zumindest zum Teil – auf der hohen Kunst der Täuschung basiert. Die Ambivalenz gilt es diskursiv auszuhalten.

Die Frage: Was gilt, was hält uns zusammen, ist die Grundlage jedes Kunstdiskurses und macht die Lebendigkeit einer Demokratie aus. Man kann das die Suche nach Wahrheit, Verlässlichkeit oder Konsens nennen.

SRF 1, Kulturplatz, 01.06.2023, 22:25 Uhr

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