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Migration und Depression: Zwischen Resilienz und Entmutigung
Aus Kontext vom 26.11.2020. Bild: Amina Trevisan
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Migration und Depression Wenn die Ankunft in einem neuen Land in einer Depression endet

Kein Job, keine Freunde: Eine Betroffene erzählt, wie es ist, in einem fremden Land an Depression zu erkranken.

Naima Cuica kommt 2003 der Liebe wegen in Schweiz. Es ist die Heimat ihres damaligen Freundes, den sie in ihrer Heimat Venezuela kennengelernt hat. Sie führen gemeinsam ein Gästehaus, bekommen ein Kind.

Als sich die politische und ökonomische Lage in Venezuela zuspitzt, beschliesst die kleine Familie in die Schweiz zu migrieren. «Mit der Migration veränderte sich mein Leben schlagartig.»

In Venezuela war sie diejenige, die die Dinge in die Hand genommen habe. Die gelernte Marketingfachfrau war beruflich geachtet und ihr Mann war auf sie, die Einheimische, angewiesen. In der Schweiz kehren sich die Rollen jäh. «Ich wollte auch arbeiten, die Sprache lernen. Aber mein Mann wollte, dass ich zu Hause bleibe und auf die Kinder aufpasse.»

Von der Karrierefrau zur Hausfrau

Naima Cuica findet sich in der Hausfrauenrolle wieder. Es ist ein unpassendes Leben für die dynamische und ambitionierte Frau. Das Ankommen in der Schweiz ist schwierig.

eine Frau posiert für die Kamera
Legende: Naima Cuicas Leben gerät nach ihrer Ankunft in der Schweiz ins Strudeln. ZVG

Naima fühlt sich nicht willkommen, ist zunehmend isoliert, auch in der Familie ihres Ehemannes: «Sie blieben unter sich. Und auch sonst fand ich keinen Anschluss zu Einheimischen.» Immer wieder macht Naima Cuica, die Afro-Venezolanerin, rassistische Erfahrungen. Verbale Anfeindungen, aber auch tätliche Übergriffe.

Die Migration von Naima Cuica ist geprägt von Verlusten: Ihre Heimat, ihre Sprache, ihre Unabhängigkeit. Auch Statusverlust: von der berufstätigen Frau zur isolierten Hausfrau.

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«Ich habe überlebt. Darauf bin ich stolz.»
aus Kontext vom 26.11.2020. Bild: Naima Cuica
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In die Armut abgerutscht

Die Ehe beginnt zu kriseln. Nach sechs Jahren Beziehung trennt sich das Paar. «Ich wollte die Trennung, denn meine Kinder sollten diese ungesunde Dynamik zwischen Mann und Frau nicht miterleben.»

Ihr Mann verlässt daraufhin die Schweiz und entzieht sich seinen Unterhaltspflichten für Kinder und Ex-Frau. Naima Cuica ist nun alleinerziehend mit zwei Kleinkindern.

Sie schlägt sich durch mit Mini-Jobs, rutscht trotzdem in die Sozialhilfe ab und muss deswegen fürchten, die Aufenthaltsbewilligung zu verlieren und damit auch ihre Kinder. «Es war eine schreckliche Zeit. Ich fühlte mich ohnmächtig und voller Scham. Denn jetzt war ich arm. In Venezuela habe ich zur Mittelschicht gehört.»

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Einstein in der Psychiatrie – Es ist okay, nicht okay zu sein.
Aus Einstein vom 07.05.2020.
Bild: SRF abspielen. Laufzeit 1 Minute 31 Sekunden.

Nach zwei Jahren kehrt ihr Ex-Mann in die Schweiz zurück und übernimmt die Kinder, denn Naima ist mit ihnen überfordert. Aber die ungewollte Trennung lässt Naima ins Bodenlose fallen. «Es ging mir miserabel. Damals wusste ich aber noch nicht, dass ich eine Depression hatte. In meiner Kultur ist das tabuisiert.»

Depression ist allgegenwärtig

In der Schweiz erkrankt jede fünfte Person mindestens einmal im Leben an einer Depression. Bei Migranten und besonders bei Migrantinnen ist das Risiko aber höher.

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Volkskrankheit Depressionen
Aus Club vom 26.11.2019.
Bild: Shutterstock hikrcn abspielen. Laufzeit 1 Minute 16 Sekunden.

«Bei einer Depression können auch gesellschaftliche Faktoren eine Rolle spielen», erklärt Amina Trevisan. Die Soziologin hat zu Depressionen migrierter Frauen in der Schweiz geforscht und kürzlich dazu ein Buch veröffentlicht: «Eine Depression hat immer verschiedene Ursachen. Zu häufig wird nur auf genetische oder psychologische Faktoren geachtet», so Trevisan.

Buchhinweis

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Amina Trevisan: «Depression und Biographie. Krankheitserfahrungen migrierter Frauen in der Schweiz». Transcript, 2020.

«Dabei muss eine Depression auch in ihrem gesellschaftlichen Kontext verstanden werden. Es gibt soziale Faktoren, die krankheitsauslösend sein können.»

eine Frau lacht in die Kamera
Legende: Besonders bei Migrantinnen sei das Depressions-Risiko hoch, so Amina Trevisan. ZVG

In ihrer Forschung hat Amina Trevisan fünf Faktoren identifiziert: «Soziale Isolation, berufliche Dequalifikation, Rollenerwartungen in einer binationalen Ehe, Rassismus und Armut spielen eine entscheidende Rolle.»

Es sei wichtig, dass Psychotherapeuten- und therapeutinnen auf migrationsspezifische Faktoren sensibilisiert würden. «Da fehlt es noch an Wissen», so Trevisan.

Bei Naima Cuica kamen alle Faktoren zusammen. Dies sei auch ein Grund, warum sie öffentlich über ihre Erkrankung spreche. «Ich möchte anderen Migrantinnen zeigen, dass sie nicht alleine sind mit ihren Erfahrungen», so Cuica.

Naima Cuica hat nach vielen Jahren ihre Depression überwunden. Sie hat sich zurück ins Leben gekämpft, auch mit professioneller Hilfe. Besonders wichtig für ihre Genesung war, dass sie nun ihr berufliches Potenzial entfalten kann. Während sie sich jahrelang mit prekären Mini-Jobs über Wasser hielt, ist sie jetzt in der Ausbildung zur Pflegefachfrau. Naima Cuica hat sich ihre Unabhängigkeit zurück erkämpft. «Es sind Welten. Endlich bin ich wieder ich.»

Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kontext, 27.11.2020, 09:03 Uhr

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