Seit Jahrzehnten kämpfen die Alevitinnen und Aleviten in der Türkei um offizielle Anerkennung und Gleichberechtigung. Man betrachtet sie wahlweise als religiöse oder als politische Bedrohung. Woran liegt's? Die österreichische Sozialwissenschaftlerin Zeynep Arslan über das Schattendasein einer religiösen Minderheit, deren zentrales Symbol das Licht ist.
SRF: Die Berichterstattung über die Aleviten ist geprägt von Unterdrückung, Spannung, Konflikten. Warum?
Zeynep Arslan: Zunächst ist da das komplizierte Verhältnis zum Islam. Sowohl die islamischen als auch die ethnisierten Aleviten verwenden bewusst oder unbewusst islamische Symbole und vollziehen gleichzeitig die islamischen Gebote nicht.
Damit scheiden sie aus der Sicht diverser Vertreter des Islams aus deren Religionsgemeinschaft aus und gelten für einige als Ketzer, die man zum wahren Glauben bringen muss.
Politisch zeitigte dies höchst problematische Konsequenzen. Im Osmanischen Reich etwa wurden die Aleviten unterdrückt und verfolgt. Die Hoffnung, dass sich die Situation mit Kemal Atatürk ändern würde, platzte mit dem Genozid an den Dersim-Aleviten 1937/38.
Bis heute sind die alevitischen Organisationen um Anerkennung, Gleichberechtigung und Erlangung ihrer Rechte bemüht.
Wie ist das Verhältnis zwischen dem Islam und dem Alevitentum?
Der alevitische Glaube lässt sich nicht ohne den ersten Imam Ali, Cousin und Schwiegersohn des Propheten Mohammed verstehen, der auch verehrt wird. Das erklärt die Nähe zum schiitischen Islam.
Mit dem grossen Unterschied: Ali wird als Reinkarnation der göttlichen Erscheinung auf Erden verstanden und bildet mit Mohammed und Allah oder Hak, wie der Schöpfer auch bezeichnet wird, so etwas wie eine Trinität. Sie alle kommen aus dem «Ewigen Licht».
Letztlich ergeben sich zwei Strömungen. Die eine sieht den alevitischen Glauben als eine Konfession innerhalb des Islams. Die andere möchte sich unabhängig vom Islam verstanden wissen.
Dann ist das Alevitentum also eine sehr heterogene Strömung?
Ja. Deshalb spreche ich von «Alevitentümern» und verstehe sie nicht als «Religion», also eine institutionalisierte Form von Glauben. Sondern eher als Glaubenssystem.
Diese stecken durch den starken Assimilationsdruck in einem Entwicklungsprozess. Sie als Religion zu bezeichnen, würde das verdecken. Auch gibt es eine wichtige Gruppe, die das Alevitentum nicht als Glaube, sondern als eine Kultur und Weltanschauung sehen.
Unterscheiden tun sich die Gruppen in ihren sprachlichen und ethnischen Zugehörigkeiten, die von den historischen sowie politischen Entwicklungen im Nahen Osten unterschiedlich beeinflusst wurden.
Zentral ist die Vorstellung der Gleichheit aller Menschen.
Ost-Aleviten etwa entsprechen nicht dem türkischen Staatsparadigma, also der Idee, dass die einzige Sprache Türkisch, die richtige Religion der Islam und die einzige Ethnie das Türkentum sei. Deshalb sind sie auch Homogenisierungsmassnahmen des türkischen Staates ausgesetzt.
Die türkischen Aleviten hingegen finden mit ihrer türkischen Zugehörigkeit auch jenseits ihres Glaubens in der sunnitisch-türkischen Mehrheitsgesellschaft Anschluss.
Was sind die zentralsten Glaubensinhalte?
Die Idee, dass die Existenz und das Leben Sinn und Zweck haben und dass alles in Gleichgewicht zueinander steht. Zentral ist auch die Vorstellung der Gleichheit aller Menschen, womit der soziale Status überwunden werden soll.
Insgesamt gibt es die Mühe einer übergreifenden Gebetsweise und geordneter Rituale, doch die Praxen unterscheiden sich von Region zu Region.
Ein wichtiges Symbol ist das Licht. Welche Bedeutung hat es?
Die alevitische Lehre besagt, dass jede Existenz aus dem Licht kommt und wieder zu ihm zurück gehen wird. Die Seele eines jeden Menschen ist unsterblich und strebt die Verschmelzung mit der Schöpfung an.
Man geht davon aus, dass alles Lebendige durch verschiedene Stadien und Ebenen geht, um am Ende im Licht erlöst zu werden. So symbolisiert das Licht auch die Erkenntnis.
Jede alevitische Zusammenkunft, «Cem» genannt, beginnt deshalb mit dem Anzünden von Kerzen. Damit wird symbolisch die Erkenntnis erweckt und die Dunkelheit erhellt.
Bei der interreligiösen Feier im Haus der Religionen in Bern hat ein Alevit Musik gemacht. Weshalb ist Musik so zentral für sie?
Die Musik ist ein Mittel zur Rezitation der Liturgie. Mit der Musik konnte diese über Jahrhunderte auch an die jüngsten Generationen vermittelt werden. Genauso wichtig ist aber der rituelle Tanz, Semah genannt. Dabei wird beabsichtigt, sich der Schöpfung zu nähern und mit dieser eins zu werden.
Das Gespräch führte Olivia Röllin.