- Stefan Bachmanns Inszenierung von Shakespeares «Sturm» im Jahr 2000 zeigt in der Erinnerung vieler Zuschauer vor allem Schauspieler in Unterhosen.
- Massiver Zuschauerrückgang ist die Quittung, der Unmut gipfelt im Januar 2001 in einer Veranstaltung, zu der 1200 Zuschauer das Foyer der Grossen Bühne in Basel stürmen. Theater und Publikum reden miteinander.
- Der Begriff «Unterhosentheater» kommt genau daher und hat sich in der Zwischenzeit verselbstständigt und muss für vieles herhalten – von tatsächliche Entblössung auf der Bühne bis hin zu allem, was einem im Theater missliebig erscheinen mag.
Unterhosen, wohin man schaut. «Schöne neue Welt!» Um die Shakespeare-Worte zu illustrieren, reissen sich in Stefan Bachmanns «Sturm»-Inszenierung im Jahr 2000 am Theater Basel die Schauspieler die Spaghetti aus den Händen.
Auf Prosperos Insel fliesst das Bier wie sonst am Ballermann, und die Renaissancekostüme sind auf Unterhosenformat geschrumpft. Das ist den Baslern dann doch zuviel.
In der dritten Saison bleiben dem neuen Schauspielleiter schliesslich die Zuschauer weg. Das «Blut- und Unterhosentheater», das er aus der Berliner freien Szene ans Stadttheater gebracht hat, bringt sie auf die Palme. Eine Poptheater-Ästhetik, die auch vor explizitem Gruseltheater nicht zurückschreckt.
Blut, Pisse, Kotze
Diese «Sturm»-Inszenierung, die Shakespeares Zivilisations-Zauber mit der modernen Gentechnik überblendet, DAZU EINE WEDEKIND-«FRANZISKA », die Bachmann mit allen möglichen Körperflüssigkeiten anreichert, Blut, Pisse, Kotze – sie bringen das Fass, sozusagen, zum Überlaufen.
«Das bemüht tabufreie Durchbuchstabieren des Sexualalphabets in jeder zweiten Inszenierung langweilt inzwischen Jung und Alt», stöhnt die NZZ.
«Wir spüren, dass im Laufe der Jahre das Misstrauen bei einem Teil des Publikums – gar nicht gegenüber einzelnen Produktionen, sondern gegenüber der Institution Theater Basel insgesamt – zugenommen und sich verhärtet hat», gibt Theaterdirektor Michael Schindhelm der «Basler Zeitung» zu Protokoll.
«Das ist ein sehr ernst zu nehmendes Problem. Ein Teil der Leute, die über viele Jahre ins Theater gegangen sind, sind im Laufe der letzten Jahre zum Schluss gekommen: Jetzt gehen wir nicht mehr hin, jetzt ist das Mass voll.»
Entzündet hat sich diese Wut an Momenten, wie ihn das Foto zeigt.
«Da geh ich nicht mehr hin!»
«Da geh ich nicht mehr hin!» betitelt das Theater deshalb selbstprovokativ eine Diskussionsveranstaltung mit dem Publikum.
Und die Überraschung ist perfekt an diesem Dienstagabend, dem 9. Januar 2001: Rund 1200 Baslerinnen und Basler gehen gleichwohl hin, sie stürmen das Foyer der Grossen Bühne regelrecht, um über ihr Theater zu diskutieren, erregte, enttäuschte, nostalgische, skeptische, aber auch begeisterte, lobende Theatergängerinnen und Theatergänger.
«Da geh ich lieber raus»,
Blut- und Unterhosentheater? «Da geh ich lieber raus», seufzt der Werber und Publizist Markus Kutter auf dem Podium und konzediert «mauvais goût».
Seine «neu erwachte Leidenschaft für diese aktuelle Kunstform» hält der Architekt Jacques Herzog dagegen. Die Stimmung ist polarisiert, auch im Saal: Von den guten alten Zeiten bei Hollmann und Düggelin schwärmen die einen, andere stellen sich hinter das neue Regietheater.
Zu allem Überfluss outet sich auf dem Höhepunkt der Krise dann auch noch Theaterdirektor Michael Schindhelm als früherer Stasi-Mitarbeiter.
Die Kropfleerete bringt die Wende
Aber der Effekt ist paradox: Die Kropfleerete bringt die Wende. Die Zuschauer laufen dem Theater nicht mehr davon. Auch die jungen Wilden werden zahmer: Ihre Regiearbeiten gerieren sich weniger chaotisch.
Das Theater Basel erlebt einen neuen Höhenflug – und wie nebenbei, fast unbemerkt hat sich ein neuer theaterpolitischer Begriff in der Schweiz etabliert: Das «Unterhosentheater» wird bald darauf auch in Zürich bei Christoph Marthaler eine Hochkonjunktur erleben.
Das Etikett wird heute von konservativer Seite, unbekümmert um allfällige tatsächliche Entblössung auf der Bühne, an alles angehängt, was einem im Theater missliebig erscheinen mag. Begonnen hat es mit Unterhosen in Basel.