- Am 20. Parteitag der kommunistischen Partei der Sowjetunion kracht es hinter den Fassaden gewaltig.
- Der Staatschef Chruschtschow hält eine fünfstündige Geheimrede, worin er Stalins Verbrechen kritisiert.
- Der Neubeginn ermöglicht Werke wie den Roman «Archipel Gulag» von Alexander Solschenizyn.
14. Februar 1956. Der gut 60-jährige Nikita Chruschtschow eröffnet in Moskau den 20. Parteitag der kommunistischen Partei. Er steht am Rednerpult, glatzköpfig, von gedrungener Statur und trägt einem schwarzen Anzug, der nicht so recht zu seinem eher bäuerlichen Aussehen passt. Im Saal sitzen über 1000 Delegierte.
Chruschtschow hat nach Joseph Stalins Tod 1953 im Sowjetstaat die Macht übernommen. Die Partei befinde sich in einer entscheidenden Phase, ruft der neue Staatschef in den Saal. Es gehe um nicht weniger als um den Aufbau der kommunistischen Gesellschaft und um den Weltfrieden. Applaus.
Stalins Verbrechen
Der Parteitag dauert fast zwei Wochen. Am zweitletzten Tag, am 25. Februar, lässt Chruschtschow die Bombe platzen – nicht öffentlich, sondern in einer geschlossenen Sitzung.
Chruschtschow greift seinen Vorgänger Joseph Stalin frontal an. Er geisselt dessen Personenkult, die Schauprozesse, die Säuberungen, den Terror. Chruschtschow spricht fünf Stunden lang. Das Publikum ist konsterniert.
Chruschtschow hat längst nicht alle Verbrechen Stalins aufgedeckt. Dennoch markiert die Rede eine Zeitenwende: das Ende des Massenterrors, Freiheit für Millionen von Gulag-Häftlingen, Förderung der Konsumgüterindustrie und dadurch mehr Wohlstand für die Bevölkerung.
Künstler blühen auf
In der Kulturpolitik setzt nun das so genannte «Tauwetter» ein, benannt nach dem gleichnamigen Roman Ilja Ehrenburgs. Darin übt Ehrenburg Kritik am frostigen Klima der Stalinzeit. Bis anhin hatten sich die Dichter gemäss offizieller Doktrin als «Ingenieure der Seele» in den Dienst des Kommunismus und der Partei zu stellen.
Diese Zeiten sind nun vorbei. Jewgeni Jewtuschenko und Anna Achmatowa sind nur einige unter vielen, die in der «Tauwetter»-Periode künstlerisch aufblühen.
Aus dem Gulag
Auch Alexander Solschenizyn gehört dazu. Er wird nach Jahren im Gulag und in der Verbannung 1956 rehabilitiert.
Chruschtschow setzt sich persönlich dafür ein, dass Solschenizyns Romandebüt «Ein Tag des Iwan Denissowitsch» erscheinen kann: das schonungslose Protokoll des menschenverachtenden Alltags im Gulag.
Eine neue Eiszeit
Doch das «Tauwetter» ist von kurzer Dauer. Noch 1956 lässt Chruschtschow den Volksaufstand in Ungarn niederschlagen. Das kulturpolitische Klima in der Sowjetunion kühlt ab.
1964 wird Chruschtschow gestürzt. Mit seinem Nachfolger Leonid Breschnew ist das «Tauwetter» vorbei.
Schreibverbot und Ausweisung
Solschenizyn kann seine Werke in der Sowjetunion kaum noch veröffentlichen. Er publiziert im Westen. Die Werke verbreiten sich mittels verbotener Abschriften auch in der Sowjetunion.
1969 schliesst der staatliche Schriftstellerverband Solschenizyn aus. Das bedeutet Schreibverbot.
1970 erhält Solschenizyn den Literaturnobelpreis. Der Dichter traut sich nicht, ihn persönlich entgegenzunehmen. Die Behörden könnten ihm die Rückkehr verweigern.
Vier Jahre später wird Solschenizyn mit seiner Familie verhaftet und ausgewiesen. Im Jahr zuvor ist in Paris sein Hauptwerk «Archipel Gulag» erschienen – eine schonungslose Abrechnung mit dem Stalinismus.
Schriftsteller-Exil Sternenberg
Solschenizyn lebt zunächst in Deutschland bei Heinrich Böll, dann in Zürich, bis ihm der damalige Zürcher Stadtpräsident Sigmund Widmer für mehrere Monate sein Ferienhaus in Sternenberg im Zürcher Oberland zur Verfügung stellt.
Danach siedelt Solschenizyn in die USA über. Erst 1994, nach der Wende, kehrt der mittlerweile 75-Jährige nach Russland zurück. Er ist in der Zwischenzeit ein zweites Mal juristisch rehabilitiert worden. Er lässt sich in der Nähe von Moskau nieder und stirbt 2008.
Enttäuschte Hoffnungen
Solschenizyn gilt heute als bekanntester Vertreter der «Tauwetter»-Literatur. Wie die Rede Chruschtschows bildet auch Solschenizyns «Ein Tag des Iwan Denissowitsch» ein Dokument, das an jene kurze Zeit des «Tauwetters» erinnert – und an die vielen damit verbundenen Hoffnungen, die bitter enttäuscht wurden.