- Der Niedergang der DDR beginnt mit diesem Foto.
- Die Ausbürgerung Biermanns führt dazu, dass Künstler das Land verlassen.
- Biermann stürzt nicht ab wie Ikarus, er landet weich in Hamburg.
Am Anfang war das Bild
Geht man von der Berliner Chausseestrasse die Friedrichsstrasse runter, kommt man zur Weidendammer Brücke. Dort hängt ein Adler am Geländer. Ein gusseiserner Preussenadler mit gespreizten Flügeln. Stellt man sich vor den Adler ans Geländer hin, sieht es aus, als wachsen einem Flügel aus dem Leib.
Dies tun einst auch zwei Dichter im Winter 1972/1973. Der amerikanische Beat-Poet Allen Ginsberg und der deutsch-deutsche Liedermacher Wolf Biermann. Der sagt:«Guck mal Allen, wenn ich hier vor diesem Eagle stehe, dann wachsen mir seine Wings aus den Shouldern.» Einzeln stellen sie sich vor den Vogel, fotografieren sich und albern rum. Biermann sagt Jahre später, er habe das Foto nie gesehen und ob es Ginsberg je veröffentlicht habe, wisse er nicht.
Kurz darauf macht Biermann das gleiche Foto nochmals. Diesmal mit seinem Freund und Fotografen Roger Melis. So entsteht das berühmte Bild von Eisenflügel-Biermann nocheinmal. Und Melis Foto ist überliefert. Biermann sagt später, er habe sich extra dafür das «Neue Deutschland» eingesteckt. Das sei schwer zu lesen gewesen, denn da hätten auch zwischen den Zeilen Lügen gestanden.
Mitte der 70er-Jahre ist Biermann seit zehn Jahren verboten. Flügel würden ihm ganz gut stehen. Doch ans Fliegen denkt er nicht. An Flucht schon gar nicht. Nie würde er die DDR verlassen, das Land, in das er einst aus Hamburg gekommen ist auf der Suche nach einem Vaterland. Aber der Flügelmann prägt sich ein.
Das Bild wird zum Lied und zum Symbol für Biermanns Situation in der DDR:
… Dann steht da der Preussische Ikarus
Mit grauen Flügeln aus Eisenguss
Dem tun seine Armee so weh
Der fliegt nicht hoch und der stürzt nicht ab
Macht keinen Wind und der macht nicht schlapp
Am Geländer über der Spree….
Dann kommt Bewegung in die Sache
Die IG Metall lädt Biermann nach Westen ein. Ein grosses Konzert in der Kölner Sporthalle, live übertragen vom Radio, zeitversetzt gesendet vom Fernsehen. Das Politbüro lässt ihn ziehen, und Biermann singt zum ersten Mal seit 1965 wieder öffentlich. Im Westen und vor tausenden von Leuten.
Er singt auch den «Preussischen Ikarus», in dem es weiter heisst:
…. Und wenn du weg willst musst du gehen
Ich hab schon manchen abhauen sehn
Aus diesem halben Land
Ich halt mich fest hier, bis mich kalt
Dieser verhasste Vogel krallt
Und zieht mich übern Rand
Dann bin ich der Preussische Ikarus
Mit grauen Flügeln aus Eisenguss
Dann tun mir die Arme so weh
Dann flieg ich hoch und dann stürz ich ab
Mach bisschen Wind und dann mach ich schlapp
Am Geländer über der Spree
Das ist zu viel fürs Politbüro
Sendungen zum Thema
«Wegen grober Verletzung staatsbürgerlicher Pflichten» bürgert das Politbüro seinen besten Kritiker aus und weiss nicht, dass es damit seinen Untergang besiegelt. Denn in der Folge der Biermannausbürgerung 1976 verlassen Künstler und Intellektuelle das Land. Es blutet aus und verliert so die letzten, die an seine Existenzberechtigung glauben.
Wolf Biermann stürzt nicht ab. Nach anfänglichem Kulturschock mit bisschen Wind macht er sich’s bequem im Hamburger Federbett. Er identifiziert sich auch nicht mehr mit Ikarus. Er ist jetzt Dädalus, der nicht abgestürzt ist, der weiterleben musste. Sein erster wichtiger Text im Westen heisst denn auch «Der Sturz des Dädalus».
Der Gang der Geschichte
Geht man heute weiter über die Weidendammer Brücke am Preussenadler vorbei, kommt man nach wenigen Schritten zum sogenannten Tränenpalas, zur ehemaligen Abfertigungshalle für Ost-West-Verkehr am Bahnhof Friedrichsstrasse.
Die ist heute Gedenkstelle und Museum. In einem der vielen Schaukästen hängt das Biermann-Foto mit dem Adler. Und drunter liegt der DDR-Pass, den man ihm einst abgenommen hat. Die Grenzer, die nur wenige Meter von hier Dienst getan haben, sind nicht mehr da.
Die Geschichte hat sie weggefegt. Das Foto aber bleibt und erzählt vom Fliegen mit Eisenflügeln.