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Gesellschaft & Religion Moral ohne Apostel

Wie verhālt sich die Moral zum Gottglauben? Braucht es Gott, um moralisches Verhalten zu motivieren? Der französische Starphilosoph André Comte-Sponville über eine zentrale Streitfrage zwischen Atheisten und Gläubigen.

Die Moral hat schlechte Presse. Alles ruft nach einer Wertediskussion, aber moralisieren, das will niemand, als Gutmensch gelten schon gar nicht. Moral und Gutmenschentum, heisst es, seien etwas für die Zeigefinger früherer Generationen. Die heutigen Hüter der Moral fänden sich bloss noch bei der Sittenpolizei und in der Kirche.

Moral, nicht Moralismus

André Comte-Sponville

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Legende: Keystone

André Comte-Sponville ist Philosoph und Autor von leicht verständlichen Büchern wie «Woran glaubt ein Atheist? Spiritualität ohne Gott» und «Kann Kapitalismus moralisch sein?».

Hinweis zum aktuellen Buch: André Comte-Sponville: «Glück ist das Ziel, Philosophie der Weg», Diogenes, 2012.

Dass die Moral so schlecht wegkommt, beruht auf einem grundlegenden Missverständnis, schreibt André Comte-Sponville in seinem jüngsten Buch «Glück ist das Ziel, Philosophie der Weg». Moral sei nicht dazu da, «zu strafen, zu unterdrücken, zu verurteilen. Dafür gibt es Gerichte, Polizisten und Gefängnisse.»

Was ist die eigene Moral?

Der eigenen Moral kann man mit einem einfachen Gedankenspiel auf die Spur kommen: Man stelle sich vor, man verfüge über die Fähigkeit, sich unsichtbar zu machen - bereits der antike Philosoph Platon berichtet vom Ring des Gyges, der den Träger unsichtbar macht. Wie würde man sich nun verhalten? Würde man stehlen, betrügen, sich rächen für erlittene Ungerechtigkeiten? Wären das Dinge, die man bloss aus Angst vor dem Urteil oder der Strafe anderer unterlässt? Genau dieses Verhalten gehöre nicht in den Geltungsbereich der Moral, sondern das sei Vorsicht und Heuchelei, sagt Comte-Sponville. Und dann wird er direkt: «Was ist Deine Moral? Das, was Du von Dir verlangst, unabhängig vom Blick der anderen oder von dieser oder jener Drohung.»

Angst vor der Hölle

Damit meint der Philosoph Comte-Sponville auch die religiöse Motivation. «Wenn es Gott nicht gibt, ist alles erlaubt.» Gegen dieses berühmte Zitat von Fjodor Dostojewski wendet er ein: «Der Gläubige, der die Moral nur respektiert, weil er auf das Paradies hofft oder die Hölle fürchtet, ist nicht tugendhaft. Er ist lediglich egoistisch und vorsichtig. (...) Selbst wenn es Gott nicht gäbe, selbst wenn nach dem Tod nichts wäre, würde dich das nicht davon entbinden, deine Pflicht zu tun, das heisst, menschlich zu handeln.»

Gott gegen das Verzweifeln

Und schon landet man beim erbitterten, oft ideologisch geführten Streit zwischen Atheismus und Gottglauben: Wer hat die Moral auf seiner Seite? Hier hat Comte-Sponville eine klare Haltung: «Nicht, weil es Gott gibt, muss ich Gutes tun, sondern weil ich Gutes tun muss, kann ich das Bedürfnis haben, an Gott zu glauben - nicht um tugendhaft zu sein, sondern um nicht zu verzweifeln.»

Die Moral der Anderen

Dass der Philosoph hier beim «ich» landet, ist kein Zufall: Moral, will sie nicht ins Moralisieren abrutschen, kann nur für einen selber gelten. «'Was soll ich tun?' und nicht 'Was sollen die anderen tun?' Das unterscheidet Moral vom Moralismus. (…) Wer sich um die Pflichten des Nachbarn kümmert, ist nicht moralisch, sondern ein Moralprediger.» Moral sei «nur in der ersten Person legitim», lautet sein streitbares, radikales Verdikt.

Der Atheist, der nicht gegen den Glauben kämpft

Audio
Comte-Sponville: «Je suis un athé non dogmatique.» (Ich bin ein undogmatischer Atheist.)
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André Comte-Sponville, der Atheist, will nicht in dieselbe Ecke gestellt werden wie jene kämpferisch-dogmatischen Atheisten um Richard Dawkins. Er sei, sagt er im Radiointerview von 2010, ein  «undogmagischer, bekennender Atheist». Mit bekennend meint er seine christliche-katholische Erziehung, der er viel verdankt, und die er auch nicht bekämpfen mag.

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