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Gesellschaft & Religion Mord und Marseillaise: Eine Hymne in Zeiten des Terrors

«Sie kommen bis in eure Arme, um euren Söhnen, euren Gefährtinnen die Kehlen durchzuschneiden»: So tönt die französische Nationalhymne. Nach den Anschlägen von Paris ist sie selbst im Ausland oft zu hören. Doch ist die Marseillaise in Zeiten westlicher Angst ein brauchbares Narrativ?

Kurz nach den Attentaten in Paris bekundeten viele Menschen ihre Solidarität mit Frankreich – mitunter durch das Posten und Liken eines Ausschnitts aus dem Filmklassiker «Casablanca» von 1942. Der Filmausschnitt zeigt das Innenleben eines Cafés, in dem sich nebst Flüchtlingen auch Nazis treffen. Als diese die deutsche Nationalhymne zu singen beginnen, schmettern ihnen die übrigen Gäste die Marseilleise entgegen und bringen die Soldaten zum Verstummen.

Nicht nur im historischen Casablanca und auf virtueller Ebene: In diesen Tagen wird die Marseilleise auch leibhaftig gesungen. Vor der Zürcher Oper etwa trafen sich am Sonntag nach den Anschlägen vom 13. November rund 800 Menschen und stimmten die französische Nationalhymne an. Ein Zeichen der Solidarität mit den Hinterbliebenen der Opfer. Und mit den Verbündeten im Kampf um Freiheit.

Der Film «Casablanca»

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Der Film von Michael Curtiz (USA 1942) entstand unter den Eindrücken des Zweiten Weltkriegs. Interessantes Detail: Viele Flüchtlinge im Film waren tatsächlich solche und spielten sozusagen sich selbst.

Aufruf zu Freiheit – und Mord

Die Marseillaise gilt seit dem 14. Juli 1795 als Nationalhymne Frankreichs. Sie entstand während der Kriegserklärung an Österreich. Vielleicht ist der Text deshalb so blutrünstig geworden: «Hört ihr auf den Feldern / Diese wilden Soldaten brüllen? / Sie kommen bis in eure Arme, / Um euren Söhnen, euren Gefährtinnen die Kehlen durchzuschneiden.»

Boden und Blut sind beliebte Metaphern für die Konstruktion einer Nation, die in solchen Hymnen besungen wird. Im Refrain der Marseillaise fällt dieses Moment der Nation mit dem Aufruf zur (militärischen) Verteidigung ebendieser zusammen: «Zu den Waffen, Bürger,/ Formt eure Truppen,/ Marschieren wir, marschieren wir!/ Unreines Blut/ Tränke unsere Furchen!»

Liebe und Hiebe

Der Text der Marseilleise verbindet also nationalistische mit kriegerischen Elementen und konstruiert damit eine Identität, die sich schliesslich auf die Freiheit beruft: «Heilige Liebe zum Vaterland, / Führe, stütze unsere rächenden Arme. / Freiheit, geliebte Freiheit, / Kämpfe mit Deinen Verteidigern!»

Es scheint also tatsächlich zu passen, wenn dieser Tage die Marseilleise von Linken und Rechten, von Französinnen und Schweizern gesungen wird: Die eigene Freiheit scheint durch den Terror bedroht. Die eigene Identität durch Pluralisierung im Zuge von Migration in Frage gestellt. Aber verkündet die Marseilleise tatsächlich ein brauchbares Narrativ in Zeiten der Angst und Verunsicherung?

Zur Person

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Legende: philipp-blom.eu

Der Historiker und Autor Philipp Blom (1970) ist ein schreibendes Enfant terrible. Sein Buch «Der taumelnde Kontinent» über das Europa zwischen 1900 bis 1914 wurde mehrfach ausgezeichnet. Blom lebt in Wien.

In der «Sternstunde Philosophie» spricht Philipp Blom mit Barbara Bleisch über die Zeitenwende, vor der die Menschen in Europa stehen.

Die Figuren mitleben

Der Historiker und Autor Philipp Blom sagt, dass ihn die Inszenierung der französischen Nationalhymne in «Casablanca» immer wieder sehr berühren würde. Er glaubt aber, dass das Festhalten an einer fixierten Identität nicht das Ziel einer liberalen Gesellschaft sein kann.

Blom ist überzeugt, dass Identität durch das Erzählen von Geschichten zustande kommt. Dass solche Narrative ernstzunehmen sind, illustriert er einleuchtend: «Angenommen, Sie gehen ins Theater und glauben der Geschichte nicht, die da gespielt wird: Dann müssen Sie gar nicht erst hingehen! Dann sehen Sie nur die Beleuchtung und die Kostüme. Sie müssen also mit den Figuren mitleben!»

Identität neu denken

Gleichzeitig sei es aber wichtig, die Erzählung von der Realität zu unterschieden. In Zeiten von Terror und wachsenden Migrationsströmen müssen also herkömmliche Ideen von Identität überdacht und allenfalls angepasst werden.

Allein am Status Quo festzuhalten erachtet Blom nicht als Ziel einer liberalen Gesellschaft. Darum brauche es dringend neue Narrative, denn «die Menschheit wird nicht weiss bleiben – und das halte ich für keine grosse Katastrophe!»

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