Als die Taliban am 15. August 2021 in die afghanische Hauptstadt einmarschierten, brach das blanke Chaos aus: «Wer an diesem Abend in Kabul war, als die Stadt fiel, der wird nie vergessen, welch panische Angst die Menschen damals hatten. Die Gewehrsalven und das Triumphgeschrei waren so laut, dass ganz Kabul davon bebte.»
Das schreibt der Publizist Shir Aqa Shayan Fariwar, der heute mit seiner Familie im Kanton Thurgau lebt. Er ist einer von 91 Autorinnen und Autoren und ihren Angehörigen, die mit Unterstützung des PEN-Zentrums in die Schweiz und andere europäische Länder fliehen konnten.
Weshalb die Machtübernahme der islamistischen Taliban für die geflüchteten Intellektuellen eine akute Gefahr darstellte, davon erzählen sie eindrücklich im neuen Buch «Wege durch finstere Zeiten».
«Wir standen auf einer Stufe mit Haustieren»
Die Textsammlung enthält persönliche Berichte, Essays und Gedichte, die veranschaulichen, wie drastisch die Machtübernahme das Leben der Autoren veränderte, insbesondere dasjenige von Frauen. «Ab jetzt standen wir auf einer Stufe mit Haustieren», schreibt die Frauenrechts-Aktivistin Qudsia Shujazada, die heute in Basel lebt.
Hinter dem neuen Buch und der Rettungs-Aktion steht die Schriftstellerin Sabine Haupt, emeritierte Professorin für Literaturwissenschaft an der Universität Freiburg.
Sie setzte sich als früheres PEN-Mitglied jahrelang für verfolgte Autoren aus aller Welt ein. Erste Hilferufe aus Afghanistan erreichten sie bereits im Frühling 2021, als absehbar wurde, dass es nach dem Abzug der US-Truppen zu einem Machtwechsel kommen würde.
Rettung in die Schweiz
Durch Zufall hörte Sabine Haupt in einem Radio-Bericht, dass es dem internationalen Radsportverband mit Sitz in Aigle gelungen war, in einer spektakulären Aktion 38 Kolleginnen aus Afghanistan in die Schweiz zu retten. «Da habe ich mir gedacht, was die Radsportler können, das können wir Schriftsteller vielleicht auch.»
Mit Unterstützung von namhaften Schweizer Autoren wandte sie sich in einem Brief ans Staatssekretariat für Migration (SEM) und bat um humanitäre Visa für gefährdete Berufskolleginnen. Das SEM vergibt solche Visa allerdings sehr zurückhaltend. Im Jahr 2022 stellten 1759 Personen aus Afghanistan einen Antrag auf ein humanitäres Visum. Davon waren nur 98 erfolgreich.
Erfolgreiches Patenschaftsmodell
Eine wichtige Voraussetzung für ein humanitäres Visum ist ein Bezug zur Schweiz, der allerdings bei den wenigsten afghanischen Intellektuellen gegeben war. Daher bat Sabine Haupt Schweizer Autorinnen, Patenschaften für die Berufskolleginnen zu übernehmen.
«Das Schöne ist, dass sich aus diesem Patenschaftsmodell echte Freundschaften entwickelt haben», erzählt Sabine Haupt. «Eine ganze Reihe von Schweizer Schriftstellern helfen nun afghanischen Familien bei der Wohnungssuche und weiteren Angelegenheiten.»
Einige der Schweizer Paten haben ebenfalls Texte zum neuen Buch beigesteuert, in denen sie ihren Aussenblick auf Flucht und Exil reflektieren. Ein Buch, das von Solidarität zeugt, ohne die Schwierigkeiten und den bürokratischen Hürdenlauf zu verschweigen, die mit dieser aussergewöhnlichen Aktion verbunden waren.