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Netzphänomen Murmelrennen Der Ball steht still, die Murmel rollt

Zwei Brüder aus den Niederlanden füllen mit Kugelbahnen die Lücke, die der Profisport in der Corona-Krise hinterliess. Sie haben Grosses vor.

Als sich vor zwei Monaten die Fussballfelder und Basketballplätze leerten, suchten Sportfans nach einer coronaresistenten Alternative. Fündig wurden sie bei einer höchst ungewöhnlichen Disziplin.

Die niederländischen Brüder Jelle und Dion Bakker betreiben seit 2006 den YouTube-Kanal «Jelle’s Marble Runs» . Sie bauen Kugelbahnen – wie wir es als Kinder auch getan haben, nur grösser. Viel grösser. Durch diese jagen sie dann mehrere Murmeln gleichzeitig und lassen das Rennen von einem aufgeregten Kommentator begleiten. Schon wird ein Kinderspiel zum Sportereignis.

Eine Faszination, die verwundert

Die Rennen ziehen einen schnell in ihren Bann: Sie sind voller überraschender Wendungen, die Bahnen sind liebevoll gestaltet, der Kommentar ist rasant und lustig.

Und trotzdem wundert man sich als Zuschauer darüber, dass man gerade gebannt ein paar Glaskugeln zuschaut, die Runden drehen.

Tribüne in einem Modell-Sportstadion. Auf den Sitzplätzen sind bunte Murmeln aus Glas platziert.
Legende: Nicht nur die Ränge für Murmeln sind bei «Jelle's Marble Runs» gut besetzt – die Videos verzeichnen bis zu 12 Millionen Zuschauer. Anton Weber / Jelle's Marble Runs

Auch Dion Bakker, der die Rennen zusammen mit seinem Bruder organisiert, kann den Reiz nicht restlos erklären: «Ich glaube, es ist das kompetitive Element, das die Menschen anzieht. Und es ist ein Rennen: Man muss es vom Anfang bis zum Schluss anschauen.»

Grosse Fans der kleinen Kugeln

Seit Beginn der Corona-Krise verzeichnet der Kanal der Bakker-Brüder grossen Zulauf. Auch dank prominenten Fans wie Fussballer Gary Lineker oder Komiker John Oliver . Mittlerweile folgen eine Million Abonnenten den Rennen. Auch der grösste US-Sportsender ESPN zeigt sie neuerdings.

«Die letzten Monate war viel los», sagt Dion Bakker. Inzwischen arbeiten 20 Personen weltweit für «Jelle’s Marble Runs» - die meisten ehrenamtlich, vier sind fest angestellt. Plötzlich müssen sich die Bakker-Brüder um Übertragungsrechte, Sponsorenverträge und TV-Formatentwicklung kümmern.

«Wir müssen nicht Milliarden verdienen»

Bei all dem Wachstum müssen die Brüder darauf achten, dass sie die eingeschworenen Fans nicht verärgern. Die mögen es nicht, wenn ihr Sport zu kommerziell wird.

Eine Rennserie, die speziell für einen Milchprodukte-Hersteller erfunden wurde, kam nicht gut an: «Die Fans hassen es, wenn wir zu viel Werbung machen.» Für Dion Bakker ist das kein Problem: «Wir müssen nicht Milliarden verdienen.»

Riesige, bunte Kugelbahn
Legende: Eine der Bahnen, die Jelle Bakker in seinem Studio gebaut hat. Anton Weber / Jelle's Marble Runs

Keine Diven, kein Doping

Der Murmelsport ist mehr als ein Lückenfüller für die sportliche Zwangspause. Er ist auch ein Gegenentwurf zum kommerziellen Spitzensport, bei dem es um viel Geld geht.

Überbezahlte Superstars mit divenhaftem Auftreten? Gibt es hier nicht: Murmeln seien bescheiden, sagt Dion Bakker. «Und es gibt kein Doping», fügt er lachend hinzu.

Längste Bahn der Welt

Diese Bescheidenheit sei den Fans wichtig. Das habe viel mit seinem Bruder zu tun, sagt Dion Bakker: «Jelle ist sehr bescheiden und gutherzig. Die Leute mögen ihn.» Jelle Bakker ist derjenige, der die Kugelbahnen baut. Er hat Autismus und begann schon als Vierjähriger, Bahnen zu bauen.

Sie wurden immer grösser, bis er 2009 den Rekord für die längste Kugelbahn der Welt knackte (den ihm inzwischen eine noch längere Bahn in Flumserberg wieder abgeluchst hat).

Flacht das Interesse an den Murmelrennen nun wieder ab, da der Massensport in vielen Ländern wieder seinen Betrieb aufnimmt? Dion Bakker geht nicht davon aus: «Es wird noch grösser werden.»

Er könnte recht haben: Denn die Murmelrennen füllen immer noch Lücken. Sie haben, was anderen Disziplinen oft fehlt: Bescheidenheit, Passion und Humor.

Radio SRF 2 Kultur, 100 Sekunden Wissen, 16.06.2020, 6:15 Uhr

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