Der Tag, als der Bär den Hühnerstall zerlegte, war der Anfang vom Ende: «Der Bär hatte auch schon unsere Apfelbäume geplündert», erinnert sich die 56-Jährige. «Aber das war zu viel: Der Stall lag in Trümmern, die Hühner waren gefressen.»
Land oder Leben
Nicht nur die Natur wurde zur Belastung, auch die Familie litt unter dem Landleben: «Mein jüngerer Sohn baute mit seinen Legosteinen nur noch Hochhäuser – und mit meinem Mann lief’s auch nicht gut.»
Dabei hatte fünf Jahre zuvor alles so schön begonnen. Die Münchnerin Claudia Heuermann war mit Sack und Pack, mit Mann und zwei Söhnen in die nordamerikanische Wildnis der Catskill Mountains gezogen. «Ich träumte vom Selbstversorgerleben in freier Natur, besonders auch für meine Kinder.»
Ruf der Wildnis
Die USA hatten es ihr angetan. Schon früher war Claudia Heuermann oft in New York gewesen, wo sie Dokumentarfilme drehte. Auch ihren Mann hatte sie dort kennengelernt. «Als die Kinder kamen, meldete sich mein alter Traum vom Leben in der Wildnis. Seit ich als Teenager das Buch ‹Ruf der Wildnis› von Jack London gelesen hatte, wollte ich einmal weg.»
Claudia Heuermann ist das, was Fachleute «Aufbrechende» nennen: Sie verstehen ihr Leben nicht als gradlinige Entwicklung, sondern als Folge von Abschnitten. «Diese Menschen sind eigentlich immer offen für Neues», sagt Sibylle Tobler, die seit über 20 Jahren Menschen in Veränderungsprozessen begleitet, «auch bei Schwierigkeiten behalten sie das Mögliche im Blick.»
Gewohnheitstier Mensch?
Häufiger allerdings sei ein anderes Muster: Menschen, die unzufrieden sind, aber nichts ändern, weil sie äussere Faktoren verantwortlich machen. «Sie sehen eher das, was sie nicht in der Hand haben, als die Dinge, die sie ändern könnten», erläutert Sibylle Tobler. «Wir Menschen funktionieren stark nach Gewohnheiten. Wir verändern meistens erst dann unsere Situation, wenn wir müssen: Wenn wir die Stelle verlieren, krank werden oder der Partner uns verlässt.»
Dabei ginge es auch anders: «Die neurobiologische Forschung zeigt, dass unser Gehirn auch im fortgeschrittenen Alter veränderbar ist», erklärt die Fachfrau. «Wir können Denkmuster ändern – aber das braucht Training und Ausdauer.»
Entscheidend ist die Zeit vor dem Absprung
Vor allem braucht es einen Plan, was man überhaupt will. «Sich mit den eigenen Wünschen und Interessen auseinanderzusetzen, ist entscheidend. Wichtig ist, was vor dem Absprung passiert.»
Dabei ist die Lust auf das Neue der bessere Veränderungsmotor als der Überdruss am Alten. «Es gibt auch Menschen, die andauernd dieses oder jenes in ihrem Leben ändern – und damit in eine Art Burnout von Veränderungen laufen», analysiert Sibylle Tobler.
Die Lust auf neue Erfahrungen war bei Claudia Heuermann stets vorhanden. Aber sie traf ihre Entscheidungen nicht Hals über Kopf. Die ersten Jahre als Selbstversorgerin auf der Farm in den Catskills seien erfüllend gewesen, erzählt sie: «Wir haben uns Tiere angeschafft, den Garten angelegt, die Jungs waren viel draussen – das war traumhaft.»
Bis der Bär kam
Erst mit der Zeit begann die Idylle zu bröckeln. Das Leben als Landwirtin war entbehrungsreich – und Mutter Natur zuweilen ganz schön garstig: «Ich war völlig fremdbestimmt von der Arbeit: Die Ziegen mussten gemolken und der Garten bestellt werden. Ausserdem hatten wir Giftschlangen im Keller, und es gab Unmengen von Zecken!»
Als der Bär kam, die Söhne das Landleben nur noch öde fanden, und sie und ihr Mann sich entfremdet hatten, wurde es für Claudia Heuermann abermals Zeit für Veränderung. Heute lebt sie mit ihren Söhnen wieder in München: «Wir waren aufs Land gezogen, weil wir selbstbestimmt leben wollten – und mussten merken, dass wir in der Stadt viel freier sind.»
Und doch. Auch wenn der Traum vom Landleben nicht anhielt und die Ehe zerbrach – Claudia Heuermann würde es wieder tun: «Es war ein Lebensabschnitt, der seine Zeit hatte – und in eine neue Erkenntnis mündete. Hätte ich es damals nicht gemacht, ich würde heute noch damit hadern.»