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Studie: Eltern sind zu erschöpft, um Kindern vorzulesen.
Aus Kultur-Aktualität vom 13.11.2020. Bild: Getty Images / Lorado
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Neue Studie zu Lesekompetenz Germanistin: «Beim Vorlesen kann man nichts falsch machen»

Erinnern Sie sich noch an die Lieblingsgeschichte, die Ihnen Ihre Eltern jeden Abend vor dem Schlafengehen vorgelesen haben? Dann können Sie sich glücklich schätzen. Über 30 Prozent der Eltern in Deutschland lesen ihren Kindern nämlich selten oder nie vor.

Zu diesem Ergebnis kommt die neue Vorlesestudie der «Stiftung Lesen», Link öffnet in einem neuen Fensterim Browser öffnen. Die Zahl ist seit Jahren konstant – und doch ist 2020 etwas neu: Die Studienautorinnen und -autoren haben nämlich zum ersten Mal die Gründe der Eltern erfragt. Fast die Hälfte der Befragten gab an, den Kindern aus Überlastung oder Erschöpfung nicht vorzulesen. Die andere Hälfte ging davon aus, dass den Kindern in der Schule genug vorgelesen wird.

Welche Folgen das haben kann und wie Eltern dagegen vorgehen können, erläutert Christine Tresch vom Schweizerischen Institut für Kinder- und Jugendmedien.

Christine Tresch

Christine Tresch

Germanistin

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Vor ihrer Tätigkeit am Schweizerischen Institut für Kinder- und Jugendmedien (SIKJM) war die Germanistin Christine Tresch Literaturredaktorin bei der «WOZ» und bei DRS 2. Am SIKJM ist sie heute in den Bereichen Lehre, Beratung und Kulturarbeit tätig.

SRF: Woran liegt es, dass Eltern kaum Zeit finden, um ihren Kindern vorzulesen?

Christine Tresch: Ich denke, dass diese Eltern als Kinder selber keinen Zugang zum Geschichten lesen hatten. Sie haben nie erlebt, dass Vorlesen einem Energie geben kann. Dass es Freude bereitet – und dass es einen Moment im Alltag mit den Kindern schafft, der ganz speziell ist. Weil sie diese Gewohnheit selbst nie erfahren haben, wissen sie auch nicht, wie sie das mit ihren eigenen Kindern umsetzen könnten.

Wie wichtig ist das Vorlesen überhaupt für die spätere Leseförderung?

In den letzten 15 bis 20 Jahren gab es unzählige Studien, die belegen, wie grundlegend Erzähl- oder Vorleseaktivitäten vor der Schulzeit für den Bildungserfolg der Kinder sind.

Wenn man Geschichten vorliest, hören die Kinder neue Wörter. Sie bauen ihren Wortschatz auf und sie hören, wie Sprache tönt. Das ist eine Einführung in die Schriftsprache. Wir wissen, dass Kinder diese Momente später auch beim eigenen Schreibenlernen nutzen können. Ausserdem werden sie so in die Buchkultur eingeführt.

Sie erfahren etwa, dass man in unserer Kultur von links nach rechts erzählt. Oder dass man blättern kann und dass mit beim Blättern der Buchseiten Spannung aufgebaut wird.

Das Vorlesen ist keine Garantie dafür, dass aus den Kindern leidenschaftliche Leserinnen und Leser werden.

Das Vorlesen ist auch eine erste Begegnung mit Literatur. Man kann also sagen, dass das Vorlesen ein genuines Mittel ist, um den Kindern die Lust an Büchern und die Lust am Lesen mit auf den Weg zu geben.

Manche Kinder greifen später aber trotz vielen Vorlese-Abende der Eltern nicht selber zum Buch. Wie erklären Sie sich das?

Natürlich ist das Vorlesen keine Garantie dafür, dass aus den Kindern leidenschaftliche Leserinnen und Leser werden. Ich würde aber die Hypothese aufstellen, dass auch wenn diese Kinder selber keinen Zugang zu Büchern gefunden haben, sie trotzdem gute Leserinnen und Leser werden. Das heisst, dass sie nicht nur Buchtexte, sondern auch andere Texte reflektierend lesen können.

Viele Eltern haben Angst, etwas falsch zu machen.

In Deutschland gaben sehr viele Eltern an, dass ihre Kinder höchstens zehn Bücher besässen und sie ihnen mehr vorlesen würden, wenn das anders wäre. Würde das Bücher schenken also Lesen fördern?

Auf alle Fälle ist der Zugang zu Büchern ganz zentral. Dazu braucht es ein breites Bibliothekennetz und Bibliotheken, die viele Angebote in den Erstsprachen der Eltern bieten. Die Eltern müssen aber auch in die Bibliothek geführt werden. Denn wenn sie selber keinen Zugang zum Lesen haben, dann ist es ein weiter Schritt dorthin.

Das heisst, Eltern mit Migrationshintergrund sollten ihren Kindern in der Muttersprache vorlesen?

Unbedingt. Die Studie zeigt nämlich auch, dass es viele Eltern gibt, die sagen, sie können selber nicht so gut vorlesen. Sie haben also Angst, etwas falsch zu machen. Dabei kann man gar nichts falsch machen. Es braucht Empowerment, weil wir wissen, dass Kinder mit einer guten Erstsprache auch eine Zweitsprache viel besser erlernen.

Das Gespräch führte Vanda Dürring.

SRF 2 Kultur, Kultur Aktualität, 13.11.2020, 07:06 Uhr.;

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