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Neues Sachbuch 9. November – Wenn ein Datum Schicksal spielt

Revolution, Putsch, Mauerfall: An keinem anderen Tag wurde Deutschlands so oft erschüttert wie am 9. November. Zufall oder Bestimmung?

Wer den Tag des Mauerfalls miterlebt hat, erinnert sich meistens noch haargenau an jene Nacht, als das Undenkbare real wurde. Ich selber verfolgte das Geschehen als junger Mann von der Schweiz aus via Fernsehen.

Noch immer läuft es mir beim Gedanken daran kalt den Rücken hinunter. Nicht nur wegen der historischen Bedeutung jenes Moments. Sondern wegen des eigenartigen Zusammentreffens mit einer literarischen Geschichte, die ich am Nachmittag des 9. Novembers 1989 mit meinen Schülerinnen und Schülern las.

Kann das Zufall sein?

Ich arbeitete damals als Praktikant in einer Thurgauer Schule. Die Geschichte, die ich im Unterricht mit den Jugendlichen behandelte, erzählte von der gefährlichen Flucht einer kleinen Familie aus der DDR. Die Erzählung veranschaulichte die Teilung der Welt in zwei ideologische Lager.

Dann kam die Nacht und mit ihr der Mauerfall. Als ich am nächsten Morgen ziemlich übermüdet vor die Klasse trat und ihr begreiflich zu machen versuchte, dass es mit dem Schrecken vorbei sei, wie ihn die gestern gelesene Erzählung schilderte, war ich völlig aus dem Häuschen.

Ich frage mich manchmal noch heute: War es Schicksal, dass ich ausgerechnet jene Fluchtgeschichte als Lektüre für die Halbwüchsigen ausgewählt hatte?

Kaskade von Ereignissen

Schicksalsgläubig könnte auch werden, wer das aktuelle Sachbuch des deutschen Journalisten und Historikers Wolfgang Niess liest. Denn der 9. November hatte es nicht erst 1989 in sich. Schon früher verzeichnete die deutsche Historie an diesem Datum mehrfach tektonische Verschiebungen.

Am 9. November 1918 rief die Linke die erste Demokratie auf deutschem Boden aus. Der Kaiser hatte abgedankt. Fünf Jahre später, am 9. November 1923, versuchte Hitler von München aus via Putsch an die Macht zu gelangen. 1938, als die Nazis längst fest im Sattel sassen, initiierte Hitler am 9. Novembertag Pogrome, gewaltsame Ausschreitungen, gegen Jüdinnen und Juden.

Es gebe keinen Grund, ob der Übereinstimmung der Daten abergläubisch zu werden, sagt Wolfgang Niess. Es gebe rationale Gründe.

Symbolisch aufgeladen

So war der 9. November für die Nazis von Anfang an ein «Tag der Schmach», weil die Linke 1918 das rechte Lager an eben jenem Tag abserviert hatte. Der 9. November war für die Nazis symbolisch aufgeladen – und geradezu prädestiniert, um 1923 der verhassten Republik durch einen Staatsstreich ein Ende zu bereiten.

schwarz-weiss Foto neuen Männer in militärisch aussehender Kleidung, stehend mit Stock.
Legende: Die Angeklagten im Münchner Putschprozess, nach dem gescheiterten Putschversuch der NSDAP unter Führung von Adolf Hitler. IMAGO / UIG / Ken Welsh

Die Novemberpogrome 1938 erfolgten am 9. November, weil an jenem Tag die Nazis in München in pathetisch-nationalistischer Manier des gescheiterten Putschs vor 15 Jahren gedachten. Praktisch die gesamte Parteielite war anwesend und vermochte so durch gegenseitige Absprache in nicht zu überbietender Heimtücke die Gewaltaktionen im ganzen Reich zu koordinieren.

Und 1989? Da war es anders. Den Mauerfall erwartete niemand. Wolfgang Niess spricht von «Zufall» oder «Fügung». Aber 1989 schliesse den Kreis zu 1918, dem ersten Aufbruch in die Demokratie.

Ein Gedenktag täte not

Es wäre an der Zeit, findet Niess, den 9. November in den Stand eines nationalen Gedenktags zu heben. Er zeige «die ganze Breite» der deutschen Geschichte – vom hoffnungsvollen Aufbruch bis zum Abfall in die Barbarei.

Buchhinweis

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Wolfgang Niess: «Der 9. November. Die Deutschen und ihr Schicksalstag», C.H. Beck, 2021.

Der Blick auf den 9. November veranschauliche, «dass Demokratie immer wieder hart erkämpft» werden müsse. Aber dass «Demokraten den Sieg davontragen können, wenn sie sich für ihre Sache einsetzen.» Und das gelte weit über Deutschland hinaus: Die Erinnerung an die Vergangenheit kann uns für Herausforderungen im Hier und Jetzt stärken.

Ich persönlich bin jedenfalls voll Zuversicht, dass meine damaligen Schülerinnen und Schüler den 9. November 1989 nie vergessen werden. Und sei es nur deshalb, weil damals ihr junger Aushilfslehrer völlig aus dem Häuschen war.

Radio SRF 2 Kultur, Kultur-Talk, 2.11.2021, 9.03 Uhr

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