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Gesellschaft & Religion Nietzsche kam als Tourist nach Sils Maria und ging als Philosoph

Im Film «Clouds of Sils Maria» finden Schauspielstars im Engadin Inspiration. Das Motiv ist nicht neu: Vor über hundert Jahren entdeckte Friedrich Nietzsche Sils Maria für sich. Es folgten viele berühmte Künstler, wie etwa Thomas Mann. Davon profitiert das 700-Seelen-Dorf bis heute.

Über der Oberengadiner Seenlandschaft steigt eine Wolkenschlange auf und verbreitet eine fast mystische Stimmung. Hoch über dem Tal stehen Juliette Binoche und Kristen Stewart in Wanderschuhen, fasziniert ob dem Naturspektakel. Im Film «Clouds of Sils Maria» mimen sie eine alternde Schauspielerin und ihre Assistentin, die sich in den gleichnamigen Bündner Ferienort zurückgezogen haben, um den Text für ein Theaterstück zu proben. Pünktlich zum Beginn der Wintersaison ist der Film die perfekte Werbung für Sils Maria, das sich neben dem mondänen St. Moritz, dem Familienort Samedan und der Sportdestination Silvaplana als Reiseziel für Kulturtouristen versteht.

Gedicht Sils Maria

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«Hier sass ich, wartend, wartend, – doch auf Nichts

Jenseits von Gut und Böse, bald des Lichts

Geniessend, bald des Schattens, ganz nur Spiel,

Ganz See, ganz Mittag, ganz Zeit ohne Ziel.

Da, plötzlich, Freundin! wurde Eins zu Zwei –

- Und Zarathustra ging an mir vorbei ...»

(Friedrich Nietzsche, 1882)

Friedrich Nietzsche – Kulturtourist vor 130 Jahren

Tatsächlich kann sich Sils Maria auf eine lange Tradition des Kulturtourismus berufen. Einer der ersten Intellektuellen hier war der deutsche Philosoph Friedrich Nietzsche, der 1879 das erste Mal nach St. Moritz kam und von der Landschaft überwältigt war. «Es gibt von diesem ersten Besuch eigentliche Liebeserklärungen Nietzsches an das Engadin», erzählt Nietzsche-Spezialistin Mirella Carbone. Doch St. Moritz war dem Philosophen schon damals zu mondän. Er kehrte 1881 ins Engadin zurück, mietete aber im beschaulichen Bauerndorf Sils Maria ein Zimmer für den Sommer.

Auf ausgedehnten Spaziergängen entlang der Oberengadiner Seen liess sich Friedrich Nietzsche zu seinen Werken inspirieren. «Er hat das Gehen als unbedingte Voraussetzung für das Denken verstanden. Seine Gedanken waren Geh-Danken, sie verdankten sich dem Gehen», erklärt Mirella Carbone. Auch die Eingebung zu «Also sprach Zarathustra», seinem berühmtestem Buch, hatte Nietzsche hier im Engadin, an einem Felsen am Ufer des Silvaplaner Sees. Hier hatte er die Idee der ewigen Wiederkunft des Gleichen.

John F. Kennedy auf Nietzsches Spuren

Das Nietzsche-Haus in Sils Maria von hohem Schnee umgeben.
Legende: Heute ein Museum: das Nietzsche-Haus in Sils Maria. Joachim Jung

Heute zeugt ein Denkmal auf der Halbinsel Chasté von den Besuchen des berühmten Philosophen. Im Haus des ehemaligen Gemeindepräsidenten, wo Nietzsche sich jeweils einmietete, befindet sich heute ein Museum. In Sils Maria ist man stolz auf den berühmten Besucher – und auf alle, die nach ihm kamen, um sich auf seine Spuren zu begeben oder um selber Inspiration zu finden. Im Eingangsbereich des Silser Nietzsche-Hauses zeugt ein vergrösserter Ausschnitt aus dem Gästebuch von den Berühmtheiten, die hier schon zu Gast waren, darunter der US-Präsident John F. Kennedy.

Hoch über Dorf und See thront das Hotel Waldhaus, ein historisches Grand Hotel aus dem Jahr 1908. Damals war Nietzsche schon seit acht Jahren tot. Dem berühmten Philosophen folgten weitere Intellektuelle nach Sils, erzählt der Senior-Direktor des Hotels, Felix Dietrich, nicht ohne Stolz: «Nietzsche hatte bestimmt einen Einfluss auf einige Intellektuelle, die wegen ihm Sils Maria und das Oberengadin besucht haben, etwa Alberto Moravia, Thomas Mann oder Hermann Hesse.»

Intellektueller Glanz für Touristen von heute

Im Hotel Waldhaus beruft man sich gern auf diese Geschichte – und setzt die Tradition fort, etwa mit einem Kulturprogramm für Gäste. Auch der Kabarettist Jürg Kienberger, ein Mitglied der Hoteliersfamilie, tritt hier regelmässig auf. Nebst ausgewachsenen Konzerten, Lesungen und Kleinkunst-Abenden spielt jeden Nachmittag ein Trio zum Afternoon-Tee im Salon mit den altmodischen Samt-Fauteuils.

Wenn die Gäste dann in ihren Sesseln sitzen und an ihren Tees nippen, wähnen sie sich in einer längst vergangenen Zeit – und sind selber für einen Moment ein bisschen Schriftstellerin oder Philosoph. «Ich liebe Hermann Hesse und habe viele Bücher von ihm gelesen – er war ja auch fasziniert von diesem Kraftort», schwärmt eine Frau, die zweimal pro Jahr hier Ferien macht. Und eine andere Hotelbesucherin fügt hinzu: «Es ist die Landschaft, es ist die Musik, es sind die Menschen, für mich ist es ein Gesamtkunstwerk.»

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