Die schweizerisch-deutsche Lyrikerin Nora Gomringer versteht es, verloren gegangene Erinnerungen und vereitelte Zukünfte in Worte zu fassen. Etwa in ihrem jüngsten Gedichtband «Gottesanbieterin», in dem sie über den Tod, ihren christlichen Glauben und den Verlust eines guten Freundes schreibt.
Im Interview spricht die Bachmann-Preisträgerin über den Ruf Gottes, den sie nie erhielt, und wie sie fast zum jüdischen Glauben konvertiert wäre.
SRF: Sie haben mal in einem Interview gesagt, dass Sie einst Nonne werden wollten. Wie kam es dazu?
Nora Gomringer: Meine Grosstante war Nonne und wir nannten sie auch «Tante Nonne». Sie war ein gutes Beispiel dafür, wie Frauen Intellektualität und Kirche verbinden können. Sie war Lehrerin für Physik und Chemie in einer Klosterschule und vermutlich sehr streng. Das hat mir Eindruck gemacht. Zudem war sie den ganzen Tag verkleidet, also im Habit. Das fand ich als Kind natürlich grossartig.
Bis heute habe ich grosse Hochachtung vor den Schwestern, die aus ihren Klöstern eine Art Forum machen. Sie verbinden sich mit der Welt, indem sie Gemüse anbauen und Bienen halten – und diese Produkte dann verkaufen.
Aber den Wunsch, Nonne zu werden, hegen Sie nicht mehr?
Es ist keine Frage des Wollens, sondern ob du den Ruf hörst, der dir sagt: «Geh in ein Kloster und widme dein Leben Jesus Christus». Ich höre ihn nicht. Und dann wäre das schon sehr hart. «Learning by doing» stelle ich mir als Nonne schwierig vor. (lacht)
Sie haben auch mit dem Gedanken gespielt, zum Judentum zu konvertieren.
Ja, weil ich ein suchender junger Mensch war. Und das Kind einer Mutter, die stets auf der Suche war und Antworten verlangte. Bis zu ihrem Tod.
Meine Mutter wurde als geschiedene Frau aus der Kirche ausgeschlossen.
Wie hat sich das konkret ausgewirkt? Hat Ihre Mutter Sie dabei unterstützt?
Ich wuchs in Oberfranken auf. Dort gab es keinen Rabbiner, der nächste wäre in Nürnberg gewesen. Aber mein Wunsch hat vieles ausgelöst. Er hat meine Mutter wieder katholisch gemacht. Die wurde damals als geschiedene Frau aus der Kirche ausgeschlossen.
Sie meinte: «Wir können deine Konversion schon einleiten, wenn es dich wirklich dorthin zieht. Aber denk daran, wer wir sind, woher wir kommen und welche Tradition dich familiär begleiten kann. Du wärst dann die einzige Jüdin weit und breit.» Das fand ich interessant, denn so hatte ich das nie betrachtet.
Diese Auseinandersetzung mit dem Religiösen, mit dem Göttlichen begann bei Ihnen also sehr früh. Jetzt legen Sie einen Gedichtband mit dem Titel «Gottesanbieterin» vor. Wen oder was bieten Sie an?
Ich glaube, es ist ein fast ironischer Ansatz, in dem ich wie ein Markthändler Gott in der Auslage habe und anpreise: Hier, der zornige! Wollt ihr den? Oder doch lieber den lustigen?
Ich bin überrascht, wie Menschen so weltlich werden können
Dass sich Kulturschaffende zu ihrem Glauben bekennen, ist selten. Begriffe wie Sünde oder Erlösung gehören nicht unbedingt zum Vokabular des modernen Menschen. Bei Ihnen aber schon. Warum?
Ich sehe mich da in einer Tradition und in einem Verständnis, das tief europäisch, christlich und jüdisch ist. Wir haben die Verantwortung, uns unserer Tradition zu besinnen. Ich bin überrascht, wie Menschen so weltlich werden können und sagen: «Brauche ich alles nicht, ist nicht mein Ding.»
Sie haben auch mal gesagt, dass Ihre Kreativität von Gott komme.
Ja, so fühle ich das. Ich habe in meinem Leben das eine oder andere gelernt. Aber eine gewisse Leitung, Fügung und vor allem Zutrauen, bestimmte Dinge tun zu können und zu dürfen – das fühlt sich an wie von Höherem geleitet.
Das Gespräch führte Olivia Röllin.