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Nordirland-Konflikt Der Brexit reisst in Nordirland die alten Wunden auf

Brennende Autos, Strassenschlachten, Hasstiraden. Der Brexit bringt den Nordirland-Konflikt nach über 20 Jahren Entspannung zurück in die Schlagzeilen und zeigt: Der Frieden von 1998 hat den Konflikt nicht aus der Welt geschafft.

In den letzten Jahren machte Nordirland meist nur noch Schlagzeilen, weil Busladungen von «Game of Thrones»-Fans  sich an den Drehorten der populären TV-Serie gegenseitig die Selfiesticks in den Bauch rammten. Doch «Konflikte verschwinden nicht, indem man nicht hinschaut», erklärt Pfarrer und Nordirland-Kenner Michael Graf.

Michael Graf

Pfarrer und Nordirland-Kenner

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Michael Graf ist reformierter Pfarrer in Kirchlindach BE und gilt als ein profunder Kenner Nordirlands. Seit über 30 Jahren bereist er explizit Irlands Nordosten und ist verbunden mit Menschen und Landschaften. Buchempfehlung: Michael Graf: Nord-Irland für Reisende. Landverlag 2016.

Um den Konflikt zu verstehen, müsse man weit zurückschauen, sagt Graf. Als König James I. zu Beginn des 17. Jahrhunderts englische und vor allem schottische protestantische Siedler nach Irland schickte, begründete er damit das britische Kolonialreich. Die ursprünglich ansässige Bevölkerung hatte kein Stimm- und Wahlrecht, sprach Gälisch, war überwiegend römisch-katholisch und sehr arm.

Kein Religionskonflikt

Über die Jahrhunderte wuchs der Widerstand gegen die britische Krone. Die Iren verübten Anschläge auf Infrastrukturbauten und Personen, planten Aufstände, schliesslich einen Guerillakrieg und riefen 1916 den irischen Freistaat aus, der später zur Republik Irland wurde.

Allerdings ohne den Nordosten: «Der wurde 1921 abgetrennt, weil dort eine Mehrheit der Bevölkerung protestantisch war – und unbeirrbar in ihrer Loyalität zur Krone.»

In Nordirland leben die beiden Konfessionen seit Generationen zwar im selben Land, aber nebeneinander her

Der Nordirlandkonflikt sei kein Religionskonflikt. «Aber man kann ihn auch nicht verstehen, wenn man die enorme Bedeutung der Zugehörigkeit zu einer Konfession ausblendet», betont Graf.

«Die Religion nimmt eine identitätsstiftende Rolle ein. Eine Protestantin geht zum protestantischen Metzger, eine Katholikin zum katholischen. Das macht man einfach so. Aber kein Katholik wurde ermordet, weil er an die unbefleckte Empfängnis glaubt.»

Kreatives Abkommen

Die Konfession bestimmt, in welche Schule jemand geschickt wird oder welche Sportart man betreibt: «Katholiken spielen Hurling und Irish Football, Protestanten Rugby und Fussball. Nicht weil sie katholisch oder protestantisch sind, sondern weil die Sportarten Ausdruck ihrer Kultur und Tradition sind. Und so leben die beiden Konfessionen seit Generationen zwar im selben Land, aber nebeneinander her.»

Besonders augenfällig ist das in Belfast, wo über 100 «peace walls» genannte Zäune, Mauern und Checkpoints die beiden Bevölkerungsgruppen voneinander trennen.

Ein Junge springt über einen Plakatständer auf dem zu Lesen ist: «It's Yes».
Legende: Grosse Zustimmung und grosse Freude über das Friedensabkommen von 1998. Über 70 Prozent der Stimmenden in Nordirland sagten «Yes». Keystone / Paul Faith

Trotzdem: 1998 brachte das Karfreitagsabkommen offiziell Frieden im Land. Das Abkommen wurde von protestantischen und katholischen Parteien, Grossbritannien, Irland, der EU und den USA ausgehandelt und von der nordirischen und der irischen Bevölkerung in einem Referendum gutgeheissen.

Es hat die Provinz befriedet und  die Identitätsfrage kreativ gelöst: Jeder und jede konnte einen britischen, einen irischen oder beide Pässe beantragen.

«Horror-Szenario für den Frieden»

Diese Vereinbarung funktionierte, solange Irland und Grossbritannien in der EU waren. Mit dem Brexit drohte nun zwischen dem EU-Mitglied Irland und dem britischen Nordirland eine EU-Aussengrenze.

«Weil dies ein Horror-Szenario für den Frieden auf der irischen Insel war, vereinbarten London und Brüssel den Verbleib Nordirlands im Binnenmarkt der EU.» Und so werden nun in den Häfen Nordirlands Güter aus Grossbritannien kontrolliert. Das reisst alte Wunden auf.

«Seit Generationen treibt die Unionisten die Angst um, sie seien den Briten – oder besser gesagt: den Engländern – egal. Und sie sind den Engländern egal, den Politikern erst recht. Nordirland ist klein und unbedeutend, und es kostet die britischen Steuerzahler pro Jahr etwa 10 Milliarden Pfund.» Gegen diese Bedeutungslosigkeit wehren sich viele Unionisten mit dem Wahlzettel, historischen Paraden oder mit roher Gewalt.

Benelux des Nordens

Wohin, so fragt man sich, soll das alles führen? «Leider – oder zum Glück – ist nahezu alles möglich», meint Graf. Dass eine überwältigende Mehrheit eine Rückkehr zum gewalttätigen Konflikt kategorisch ablehnt, stimmt ihn hoffnungsvoll.

Der Schweizer bringt eine interessante Idee zur Lösung des Jahrhunderte alten Konflikts ins Spiel: «Ich stelle mir einen neuen Bundesstaat vor: die Iro-schottische Föderation, ein ‹Benelux des Nordens› mit Schottland, Nordirland und der Republik Irland.» Es wäre ein vom übermächtigen England unabhängiger Verbund keltisch geprägter Kleinstaaten.

SRF 1, Tagesschau, 4.7.2021, 19:30 Uhr

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