Diesen Februar starb ein 35-jähriger Portugiese in der Unterführung des U-Bahnhofs, gleich neben dem britischen Parlament. Es war eine bitterkalte Nacht.
Im Herbst 2017 wurden in England 4751 Obdachlose gezählt – rund ein Viertel von ihnen allein in London. Seit Beginn der britischen Sparpolitik vor acht Jahren hat sich die Zahl der Obdachlosen verdoppelt – allein im letzten Jahr stieg sie um ein Sechstel.
Gedichte als Ausdrucksform
Der 36-jährige Neil Hallows lebt auf der Strasse. Einst arbeitete Hallows als Dachdecker, aber nach dem Tod seiner Partnerin vor 15 Jahren verlor er die Kontrolle über sein Leben. Alkohol und psychische Störungen führten ihn in die Obdachlosigkeit.
Hallows sagt selber über sich, er könne schlecht mit Leuten reden; er finde keine Worte und werde dann zornig über seine Ungeschicklichkeit. Deshalb schreibt er Gedichte. Eines davon befasst sich mit Menschen, die ihre zwischenmenschlichen Probleme mit dem Messer lösen.
«Denk doch mal nach»
2017 gab es allein in London fast 13 000 Verbrechen mit Messern – ein Viertel mehr als im Vorjahr. Achtzig davon endeten tödlich. Manchmal ist der Grund für die Gewalt laufende Fehden unter kriminellen Banden. Oftmals aber entstehen die brutalen Auseinanderseitzungen beliebig und willkürlich. Das Gedicht von Neil Hallows heisst «Think about it» – «Denk doch mal nach»:
Die 22-jährige Mathematiklehrerin Heather Kelly verteilte heisse Getränke und Gebäck an die Obdachlosen. So lernten sich Kelly und Hallows kennen. Kelly las Hallows Gedichte und veröffentlichte sie im Eigenverlag unter dem Titel «Invisible» – Unsichtbar.
Obdachlosigkeit in Worte fassen
Neil Hallows hat inzwischen in einer Herberge Zuflucht gefunden. Sein Weg in die Obdachlosigkeit war früher beinahe die Norm: Suchtprobleme, fragile geistige Gesundheit, kaputte Beziehungen. Doch in den letzten Jahren der britischen Sparpolitik hat sich das Profil der Obdachlosigkeit verändert.
Wohnraum wird immer teurer, namentlich in London ist er nahezu unerschwinglich geworden, nicht zuletzt, weil neue Gebäude oft nur für den Nachwuchs von Oligarchen und arabischen Scheichs konzipiert werden.
Gemeinden werden vom Zentralstaat ausgehungert und bauen keine Sozialwohnungen mehr. Arbeitsverhältnisse werden zunehmend prekär, von der Scheinselbstständigkeit zur Arbeit auf Abruf. So enden andere Leute auf der Strasse und bei Suppenküchen als früher.
Über dieses unzivilisierte Leben auf der Strasse schreibt Neil Hallows seine Gedichte und macht die Akteure – im Gegensatz zum Titel seiner Sammlung – sichtbar.
Sendung: Kultur Aktualität, Radio SRF 2 Kultur, 27.2.18, 17.10 Uhr