«Wie lebt es sich mit einem menschlichen Lügendetektor?», fragt Esther Perel einen Mann, der zugibt, dass er lügt. Er ist zusammen mit einer Frau, die ihn immer wieder überführt – aber trotzdem bei ihm bleibt. Das Paar sitzt in Esther Perels Praxis in New York.
Die gebürtige Belgierin ist zurzeit die wohl bekannteste Paartherapeutin. Ihre Bücher und TED-Talks werden millionenfach gelesen und geschaut, ihr jüngster Bestseller «Die Macht der Affäre» ist eben auf Deutsch erschienen.
Verdichtete Liebes- und Leidensgeschichte
Perel gibt nicht nur mit Talks und Texten Einblick in ihre Arbeit, sondern auch mit einem Podcast: 2017 lacierte sie «Where Should We Begin?». Darin zu hören sind echte Paare und deren Probleme, aufgenommen in einer Therapiesitzung bei Perel.
Die ursprünglich dreistündige Sitzung wird auf eine 45-minütige Episode gekürzt. Das Ergebnis: verdichtete, intime Geschichten, die ihre Zuhörerschaft mitten in eine schwere Beziehungskrise führen.
Die Paare auf ihrer Therapeuten-Couch zoffen sich aber nicht, sie kämpfen. In der neusten, dritten Staffel bezeichnet sich ein Paar als «glücklich geschieden». Es will nicht, dass die Scheidung ihre Beziehung und die guten Ehejahre völlig kaputtmacht. Dazu Perel: «Geschieden? Ihr habt eure Beziehung nicht beendet, ihr habt sie geändert.»
Ruinen einer Liebe
Da sitzt ein Vater, der nach dem Suizid seiner Frau eine neue Beziehung eingeht und nicht weiss, wie er mit seiner Trauer umgehen soll. Eine betrogene Frau fragt: «Wie lernt man, jemanden wieder zu lieben?» Ein anderer erkennt: «Ich würde nicht mit mir zusammensein wollen.»
Nach den ersten Podcastminuten steht man vor den Ruinen einer Liebe. Die Probleme sind bekannt: Liebe, Untreue, Begierde, Vernachlässigung. Neu aber ist, wie sie präsentiert und adressiert werden.
Fragen, die sich jeder stellt
Denn bei Perel steht nicht das Problem im Fokus, sondern die Debatte. Neben der einen Perspektive sitzt bei Perel eine andere und wartet darauf, ihre Version zu schildern.
Für den Zuhörer sind die Gespräche weder vollständig, noch führen sie zur definitiven Problemlösung. Perel bietet Einblick in komplexe Beziehungsprobleme, gibt Denkanstösse und unkonventionelle Tipps. Nach jedem Paar und jeder Episode bleiben aber Fragen offen, die sich jeder stellt, der schon mal geliebt und gestritten hat.
Erkenntnisse statt Cliffhanger
In Zeiten serieller Unterhaltung hat diese Unfertigkeit etwas angenehm Ernüchterndes. Auf Perels ruhige Analyse folgen Erkenntnisse statt Cliffhanger und Happy-End.
Kitschige Hollywoodkomödien und romantische Netflix-Serien sehen wir überall, schwierige Beziehungen und erstarrte Ehen weniger. Perel macht sie hör- und spürbar. Die wahren Helden der Liebe nehmen auf ihrer Couch platz; sie reden, weinen und halten durch.
Schlichtung statt Scheidung
Die realistische Herangehensweise an die grossen Fragen der modernen Liebe macht diesen Paartherapie-Podcast zu einem nützlichen. Er bleibt in einer Therapiesitzung und traut sich, das Problem zu akzeptieren. Die Nähte und Risse in Beziehungen sind hier keine Makel, sondern Zeichen harter Beziehungsarbeit.
Perel – pragmatisch statt sentimental – fordert mit «Where Should We Begin?» von Paar und Publikum: Versteht eure Widersprüchlichkeit und haltet sie aus. Es geht nicht darum, alle Probleme zu lösen, sondern Unannehmlichkeiten auszuhalten. Oder, so gut es geht, zu umschiffen.