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Pazifist zum Ukrainekrieg «Motivation ist immer stärker als Gehorsam»

Der Philosoph Olaf Müller kann dem aktuellen Kriegsgebahren nichts abgewinnen. Der Pazifist rät den Ukrainerinnen und Ukrainern zu zivilem Widerstand.

Olaf Müller

Philosoph

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Der Philosoph Olaf Müller lehrt Wissenschaftstheorie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Geboren 1966 in Westdeutschland, war Müller wehrdienstpflichtig und wurde Soldat. Müller bezeichnet seinen Wehrdienst als «den grössten Fehler meines Lebens» und ist heute überzeugter Pazifist. In seiner philosophischen Forschung versucht er ausserdem, ein humanistisches Bild unserer Physik zu zeichnen.

SRF: Sie bezeichnen sich selbst als Pazifisten. Gilt das auch angesichts des grausamen Ukrainekriegs?

Olaf Müller: Der Pazifismus ist keine Schönwetter-Veranstaltung. Wenn er etwas taugt, muss er sich in jeder noch so dramatischen Situation neu bewähren. Man sollte ihn nicht mit geschlossenen Augen und verschlossenem Herzen hochhalten.

Putins Angriffskrieg ist klarerweise ethisch falsch: Ein Verbrechen – darüber sind sich Pazifisten und ihre Gegner einig. Weitaus heikler ist die ethische Beurteilung der militärischen Verteidigung vonseiten der Ukraine.

Ich spreche kein moralisches Verbot aus, wenn ich sage, dass es besser wäre, zu anderen Mitteln des Widerstands zu greifen.

Was dort in den letzten drei Wochen seit Kriegsbeginn geleistet worden ist, nötigt mir Respekt ab, Bewunderung, auch Verwunderung. Dennoch bin ich zu dem Ergebnis gekommen, dass sie nicht gut beraten sind, auf den mörderischen Angriffskrieg so zu reagieren, wie sie es getan haben.

Warum sollte die Ukraine sich nicht verteidigen dürfen?

Wer wäre ich denn, den Ukrainern das Recht auf Selbstverteidigung abzusprechen; das steht mir nicht zu. Ich spreche kein moralisches Verbot aus, wenn ich sage, dass es besser wäre, zu anderen Mitteln des Widerstands zu greifen.

Was bedeutet Pazifismus?

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Der Pazifismus steht, einfach gesagt, für Frieden und gegen Krieg. Diese ethische Haltung vertreten Pazifistinnen und Pazifisten unterschiedlich konsequent.

Einige wenige lehnen absolut jede Form von Gewalt und militärischen Handlungen ab. Die meisten jedoch sehen Ausnahmen vor. So dürfe man zur Selbstverteidigung durchaus zu den Waffen greifen, wenn alle zivilen Instrumente erschöpft sind.

Manchmal wird auch die Lehre des «Gerechten Krieges» zum Pazifismus gerechnet: Wenn rasch und legitim grosses Leid verhindert werden kann, wird ein militärisches Eingreifen zur moralischen Pflicht. In all diesen Überlegungen lässt sich der Pazifismus von religiösen wie politischen Motiven leiten.

Jeder Tag, den der Krieg weiterläuft, ist ein schlechter Tag. Aus dem eingeschlossenen, umzingelten, beschossenen Mariupol haben ukrainische Quellen über 4000 getötete Zivilisten gemeldet. Es ist sogar die Rede von 20’000 Todesopfern. Und das ist längst nicht das Ende. Es fällt schwer, sich in ein Wertesystem hineinzudenken, das solche Opfer in Kauf nehmen wollte.

Was wäre denn eine pazifistische Strategie im Ukrainekrieg?

Wenn Pazifisten angesichts eines Ausbruchs massiver tödlicher Gewalt ein wenig höhnisch gefragt werden, wie es denn nun um ihre reine Lehre bestellt sei, so ist das nicht ganz fair. Warum werden wir immer nur dann gefragt, nachdem das Kind in den Brunnen gefallen ist? Soll heissen: Ziviler Widerstand will genauso trainiert sein wie militärischer Widerstand.

Bei exakt gleicher Kräfteverteilung ist der Freiwillige immer dem Befehlsempfänger überlegen.

Die massive Medienarbeit der jetzigen Regierung und ihrer Bevölkerung ist vorbildlich und liesse sich auch in eine zivile Verteidigung integrieren. Auch im Falle eines militärischen Angriffs auf zivile Widerständler ist eine Bilderflut zu verbreiten, die den Angreifer als das zeigt, was er ist: Er muss gezwungen werden, seiner eigenen Aggression ins Auge zu blicken – und zwar, ohne dass er sich darauf herausreden könnte, er stünde selber unter Beschuss, hätte schon so und so viele Kameraden verloren, müsse sich rächen …

Foto von einer zerstörten Fläche, überall liegen braun-graue Trümmer, Rauch steigt auf. Menschen auf dem Trümmerfeld.
Legende: Bilder der Zerstörung: Am Montag, 21. März, wird ein Kiewer Einkaufszentrum von russischen Truppen zerbombt. Keystone / AP / RODRIGO ABD

Die russische Armee kommt nicht so rasch voran, wie Putin dies dachte. Militärische Verteidigung scheint also zu funktionieren.

Bei exakt gleicher Kräfteverteilung ist der Verteidiger so gut wie immer dem Angreifer überlegen. Mehr noch, bei exakt gleicher Kräfteverteilung ist der Freiwillige immer dem Befehlsempfänger überlegen: Motivation schlägt Kadavergehorsam.

Liefern wir so starke Waffen, dass Putin den Krieg zu verlieren droht, dann knallt's.

Obwohl die Ukrainer über weniger militärische Kräfte gebieten als Putin, machen sie einen Teil ihrer Unterlegenheit durch solche weicheren Faktoren wett. Diese Kraft ist dieselbe Kraft, die eine zivile Verteidigung stark machen kann. Man braucht viel, viel mehr davon!

Verschieben wir den Blick auf das restliche Europa. Wie kann eine Ausbreitung des Kriegs verhindert werden?

Selenski will die Nato in diesen Krieg hineinziehen. In der Tat ist dies Teil der offiziell verabschiedeten ukrainischen Militärdoktrin vom März 2021: Militär und Bevölkerung sollen so lange trotzen, bis die Nato eingreift und das Blatt sich wendet.

Auf dieses Drehbuch dürfen wir uns auf keinen Fall einlassen. Zwar weiss kein Mensch, was dann in Putin und seinen Gefolgsleuten vorgehen wird – es kann durchaus sein, dass Putin mit seiner Drohung einer nuklearen Eskalation nur blufft.

Aber es wäre brandgefährlich, auszuprobieren, wie es sich damit verhält. Ich habe Angst: Seit Putins Überfall auf die Ukraine ist die Atomkriegsgefahr mitten in Europa in die Höhe geschnellt – und durch unsere westliche Antwort steigt sie weiter an.

Der Westen provoziert einen Atomkrieg – wirklich?

Wir geben den Ukrainerinnen und Ukrainern genug Defensivwaffen, damit sie weiter durchhalten können, und schauen, wie Putin reagiert. Wir tasten uns an seine Schmerzgrenze heran: Liefern wir so starke Waffen, dass er den Krieg zu verlieren droht, dann knallt's.

Krieg ist Chaos, kein rationales Rechenexempel.

Wollen wir diesen Kipppunkt wirklich kennenlernen? Wie gesagt, ich habe Angst vor einem Atomkrieg.

Erinnern wir uns daran, wie falsch der Westen noch vor kurzem die Lage in Afghanistan beurteilt hat – und jetzt sollen wir sicher genug wissen, wie weit man gegenüber Putin gehen kann? Nein, danke. Krieg ist Chaos, kein rationales Rechenexempel, und unser Wissen um die Folgen unseres Tuns ist begrenzt.

Haben Sie noch Hoffnungen auf eine friedliche Beilegung des Krieges?

Zuallererst hoffe ich auf Verhandlungen.

Das Gespräch führte Florian Skelton.

SRF 1, Sternstunde Philosophie, 20.03.2022, 11:00 Uhr ; 

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