Zum Inhalt springen

Pflege daheim Schicksalsschlag – wenn Angehörige plötzlich pflegen müssen

Plötzlich im Rollstuhl, plötzlich dement – und das Leben ist komplett auf den Kopf gestellt: Solche Schicksalsschläge treffen nicht nur die Patientinnen und Patienten, sondern auch die Angehörigen.

Oft übernehmen sie dabei die Aufgaben einer Pflegerin oder eines Pflegers – unbezahlt. Würde man die Angehörigen für ihre Betreuungsarbeit entschädigen, hätte dies Kosten von 3.7 Milliarden Franken pro Jahr zur Folge, hat das Bundesamt für Statistik ausgerechnet.

In der Schweiz pflegen fast 600'000 Menschen ihre Angehörigen. René Arbeiter und Alexandra Burkart sind zwei von ihnen.

René Arbeiter: Ein Abschied auf Raten

Ein Mann sitzt einer Frau an einem Küchentisch gegenüber und lächelt sie an.
Legende: Ein tägliches Abschiednehmen: René Arbeiter mit seiner Frau, die an frontotemporaler Demenz erkrankt ist. SRF / Matthias Willi

René Arbeiter ist einer von diesen Angehörigen. Er ist seit 27 Jahren mit seiner Frau verheiratet. 2013 erhielt seine Frau, damals 54 Jahre alt, die seltene Diagnose: frontotemporale Demenz. Sie tritt meist bei Personen zwischen dem 45. und 60. Lebensjahr auf. René Arbeiters Frau verfügt heute noch über einen Wortschatz von ungefähr 30 Wörtern.

«Ich wusste nicht, was eine frontotemporale Demenz ist und fing an, darüber zu lesen. Ich liess es aber bald wieder sein, weil ich merkte: Das kann hart werden», erzählt René Arbeiter.

Heute weiss er: Es ist ein tägliches Abschiednehmen. Fast jeden Tag kann seine Frau irgendetwas nicht mehr. Die Tochter hält die Situation nicht aus, erleidet einen Nervenzusammenbruch und zieht aus.

René Arbeiters Frau ist im Moment zwar noch relativ selbstständig. Sie kann sich selbst waschen und anziehen und arbeitet halbtags in einer geschützten Werkstatt. Aber vieles klappt nicht mehr: Schmutzige Teller landen im Kühlschrank. Im Winter zieht sie sich sommerlich an. Das Essen, welches die einst gute Köchin zubereitet, ist ungeniessbar.

Ein Mann mit Schnauz und Kurzarmhemd steht vor einer rot gestrichenen Wand mit zahlreichen Bildern.
Legende: Einsam in einer Beziehung: «Ich habe niemanden mehr, dem ich etwas erzählen kann», sagt René Arbeiter. SRF / Matthias Willi

René Arbeiter hat keine Partnerin mehr auf Augenhöhe. Innerhalb weniger Jahre wurde die Ehefrau gewissermassen zum Kind. Für den 60-jährigen René Arbeiter ist das eine grosse Belastung: «Ich habe niemanden mehr, dem ich zu Hause etwas erzählen kann. Sie versteht mich nicht mehr. Das tut weh.»

Der Harley-Liebhaber macht zum Ausgleich Töfftouren. Manchmal nimmt er seine Frau mit. Das sei eines der wenigen Dinge, die sie noch gemeinsam machen könnten.

Ein Mann und eine Frau sitzen auf einem grossen Motorrad vor einer See- und Berglandschaft.
Legende: Kleiner Moment des Glücks: Manchmal nimmt René Arbeiter seine Frau mit auf einen Töffausflug. René Arbeiter

Lange kann René Arbeiter mit der neuen Lebenssituation umgehen, Gesprächspartner findet er in einer Selbsthilfegruppe. Dieses Jahr aber stösst er plötzlich an seine Grenzen, kann nachts nicht mehr schlafen.

«Der Arzt sagte mir: ‹Herr Arbeiter, Ihrer Frau geht es gut. Jetzt müssen Sie auf sich schauen›.» Er macht erstmals zwei Wochen Ferien – alleine. Seine Frau ist in dieser Zeit in einer entsprechenden Institution untergebracht.

Die Auszeit tut René Arbeiter gut. Die Sorgen um die Zukunft bleiben. Der Zustand seiner Frau verschlechtert sich. Er muss sich mit einem Heimaufenthalt auseinandersetzen. Doch das kostet viel Geld, auch wenn die Krankenkasse einen Teil dazu beiträgt. Der Produktionsleiter hat neben der psychischen Belastung nun auch finanzielle Ängste.

Alexandra Burkart: Am Anfang zu viel gewollt

Porträt einer jüngeren Frau in einem Park.
Legende: Verlassen war keine Option: Alexandra Burkart war gerade mal zwei Monate mit Roland zusammen, als er einen schweren Arbeitsunfall hatte. SRF / Matthias Willi

Finanzielle Ängste – zumindest diese hat die 37-jährige Alexandra Burkart nicht. Ihr Mann Roland ist Tetraplegiker und sitzt im Rollstuhl. Er ist bei Malerarbeiten von einem Gerüst aus 10 Meter Höhe heruntergefallen. Weil es ein Arbeitsunfall war, übernimmt die Suva alle Spitexkosten.

Als das Unglück passiert, ist Alexandra Burkart 24 Jahre alt und gerade mal zwei Monate lang mit Roland zusammen: «Für mich gab es nie den Gedanken, dass ich ihn verlasse. Er ist meine grosse Liebe, das spürte ich von Anfang an.» Sie sei zuerst einfach nur froh gewesen, dass er überlebt habe.

Die Herausforderungen kommen später, als Roland nach der Reha nach Hause kommt: «Ich habe mir am Anfang zu viel zugemutet. Ich wollte schnell mit Roland selbstständig sein und alles selber machen.»

Die ersten gemeinsamen Ferien erlebt sie als streng – und das nicht nur, weil sie Roland den ganzen Tag im Rollstuhl schieben muss. Sie übernimmt auch die gesamte Pflege, vom Anziehen bis zum Verbandswechsel des Katheters.

Eine stehende Frau zieht einem Mann im Rollstuhl die Jacke an.
Legende: Die Spitex übernimmt die Pflege – dafür hat Alexandra Burkart mehr Kraft für alltägliche Unterstützungen. SRF / Matthias Willi

Als die beiden zusammenziehen, will Alexandra Burkart die Morgenpflege an die Spitex abgeben und am Abend die Pflege selber übernehmen. Roland schlägt vor, die Pflege ganz der Spitex zu überlassen. Darüber ist Alexandra Burkart froh: «Es gibt mir mehr Freiheit, und Roland hat nicht dauernd das Gefühl, von mir Hilfe verlangen zu müssen. Das ist für die Beziehung sehr förderlich.»

Zuhause haben die Operationsfachfrau und der Illustrator eine klare Arbeitseinteilung: Sie macht alles im Haushalt, er ist für die Büroarbeiten zuständig.

Eine Frau mit Kinderwagen spaziert auf einem Trottoir neben einem Mann im Rollstuhl.
Legende: Familienleben, trotz allem: Alexandra Burkart und ihr Mann Roland haben seit fünf Monaten eine Tochter. SRF / Matthias Willi

Alexandra und Roland Burkart sind inzwischen verheiratet. Neue Herausforderungen gäbe es immer. Zum Beispiel auch jetzt wieder. Seit fünf Monaten haben sie eine Tochter. Das sei ein riesiges Glück. Es braucht aber auch Absprachen, was bei der Umsorgung der Tochter möglich ist und was nicht: «Vertrauen ist da wichtig.»

Alexandra Burkart gibt ihre Erfahrungen weiter. Sie engagiert sich beim Schweizer Paraplegiker Zentrum Nottwil und berät dort Angehörige.

Was müssen pflegende Angehörige wissen? Das sagt die Expertin

Box aufklappen Box zuklappen
Eine Frau mit langen braunen Haaren beim Diskutieren
Legende: SRF

Iren Bischofberger leitet an der Careum Hochschule Gesundheit den Forschungsbereich «work & care» . Sie ist ausserdem im Vorstand der Spitex Schweiz.

SRF: Sie erforschen seit zehn Jahren im Rahmen des Programms «Work and Care» die Situation von pflegenden Angehörigen in der Arbeitswelt. Wie offen sind Arbeitgeber, wenn Angestellte plötzlich ein Familienmitglied pflegen müssen?

Iren Bischofberger: Eine kürzlich publizierte Umfrage zeigt, dass die Arbeitgeber heute offener sind als noch vor zehn Jahren. Es kommt aber auf die Krankheit an. Liegt eine Krebserkrankung vor, ist es für betroffene Angehörige sicher einfacher ein Gespräch mit dem Arbeitgeber zu führen als bei einer Demenzerkrankung, die langsam voranschreitet.

Viele pflegende Angehörige haben finanzielle Sorgen. Können sie mit Unterstützung rechnen?

Die Kosten für die Langzeitpflege sind in der Schweiz tatsächlich sehr hoch. Für Menschen, die das Rentenalter noch nicht erreicht haben, ist die Pro Infirmis eine geeignete Anlaufstelle. Ältere Menschen können sich an die Pro Senectute wenden. Eine Möglichkeit sind Hilflosenentschädigungen. Wird eine Invalidenrente bezogen, gäbe es auch die Möglichkeit eines Assistenzbeitrags.

Laut Bundesamt für Statistik spart der Staat jährlich 3.7 Mrd. Franken dank der Pflege durch Angehörige. Sollte das Geld nicht an die Angehörigen zurückgehen?

Darüber wird tatsächlich nachgedacht. Die Frage ist nur, wie es umgesetzt wird. Ein erster Schritt in diese Richtung ist ein neues Gesetz, das die Abgeltung bei Kurzabsenzen von pflegenden Angehörigen regelt. Eine Möglichkeit wäre, dass sich pflegende Angehörige von der Spitex anstellen lassen. Doch diese Möglichkeit muss noch vertiefter geprüft werden.

Gibt es genug Anlaufstellen für pflegende Angehörige in der Schweiz?

Wahrscheinlich gibt es genug. Aber wir wissen aus der Forschung, dass nicht alle Hilfesuchenden ihr passendes Angebot auch finden. Erschwerend ist, dass die Angebote abhängig sind vom Wohnort. Nicht alle Kantone bieten dieselben Angebote. Wünschenswert wäre eine Chancengleichheit diesbezüglich in der Schweiz.

Wo sehen Sie Handlungsbedarf, um die Situation von pflegenden Angehörigen zu verbessern?

Die Koordination müsste verbessert werden. Zusätzlich ist von der Arbeitgeberseite mehr Engagement gefragt. Die Themen, wie Gebrechlichkeit oder Krankheit, müssen in den Betrieben selbstverständlich angegangen werden. Wenn der Arbeitgeber dem Thema gegenüber offen ist, ist es für Betroffene viel einfacher, frühzeitig und schrittweise Lösungen zu suchen und auch zu finden.

Das Gespräch führte Vanda Dürring.

Radio SRF 2 Kultur, Kontext, 30.11.2020, 9:03 Uhr

Meistgelesene Artikel