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Gesellschaft & Religion Pflege-Migrantinnen aus dem Osten: Extreme bestimmen das Bild

Geschätzte 30‘000 Privatpflegerinnen aus Polen, Ostdeutschland oder Ungarn arbeiten in der Schweiz. Sie putzen und kochen, waschen Haare oder verbinden auch einmal ein Bein, immer einsatzbereit, 24 Stunden lang. Was heisst das für sie? Eine Einschätzung von Filmautor Béla Batthyany.

Baguscia N., eine polnische 24-Stunden Betreuerin im Tessin hatte bereits ein Ticket für die Busreise zurück in ihre Heimat. Doch sie ist nie zu Hause angekommen. Am 3. Dezember 2012, zwei Wochen vor ihrem 49. Geburtstag, hat sie sich das Leben genommen.

Schwierige Beziehung mit den Angehörigen

Als ich von diesem Vorfall hörte, steckte ich mitten in meinen Recherchen und beginnenden Dreharbeiten zum Dokumentarfilm «Hilfe aus dem Osten – Pflegemigrantinnen in der Schweiz». Es war Bozena Domanska, eine meiner Protagonistinnen, die mir davon erzählte. Was genau ist da geschehen? Hat das mit der enormen Arbeitsbelastung der Pflegerinnen zu tun? Es ist bekannt, dass sie in der Regel nicht nur im Notfall erreichbar sind, sondern häufig im Zimmer nebenan schlafen, immer einsatzbereit, 24 Stunden lang.

Um mehr zu erfahren, kontaktierte ich die Tessiner Behörden. Dort erfahre ich nicht viel. Baguscia N. betreute seit mehreren Jahren eine alte Frau in Cadenazzo, in der Nähe von Bellinzona. Die letzten Monate waren offenbar sehr hart für die Betreuerin. Irgendetwas muss in der Beziehung mit den Angehörigen der alten Frau nicht funktioniert haben. Die Polin hatte sich an die Polizei gewendet, ohne aber eine genaue Anklage vorzulegen.

Video
Polnische Betreuerinnen diskutieren über ihre Situation
Aus DOK vom 17.06.2013.
abspielen. Laufzeit 3 Minuten 9 Sekunden.

Eigentlich wollte sie nur noch nach Hause

Über Baguscias polnische Kolleginnen im Tessin erfahre ich mehr: Sie wird mir als pflichtbewusste Frau beschrieben, introvertiert und bescheiden, sehr gläubig. Sie hatte sich kurz vor der Tat einer anderen Betreuerin anvertraut: «Mir geht’s nicht gut, ich kann nichts essen». Und sie entschied sich, den Arbeitsvertrag mit der Familie im Tessin aufzulösen.

Das Klima muss zu diesem Zeitpunkt schon sehr angespannt gewesen sein. Baguscia hatte erneut die Polizei kontaktiert. Sie wollte, dass die Beamten überprüfen, dass sie im Haus der alten Dame nichts gestohlen hatte. Sie hatte Angst, wegen Diebstahls angeklagt zu werden. Eigentlich wollte sie nur noch nach Hause. Trotzdem ist sie geblieben. Bis es nicht mehr ging.

Extremfälle bestimmen das Bild

Baguscia ist ein Extremfall, keine Frage. Aber es sind genau diese Einzelfälle, die in letzter Zeit medial starke Präsenz erhielten: Da ist von Hungerlohn und Ausbeutung, moderner Sklaverei und skrupellosen Agenturen die Rede.

Als extremes Gegenstück dazu wird das Win-Win-Verhältnis hervorgehoben: Dass die Angehörigen durch die Betreuerinnen entlastet werden. Und diese wiederum weit mehr verdienen, als in ihrem Heimatland, wo sie mit ihrem Lohn die Grossfamilie unterstützen können.

Der Preis ist hoch

Netzwerk für Betreuerinnen

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Seit Juni 2013 gibt es eine Anlauf- oder Informationsstelle für Care Migrantinnen in der Schweiz, gegründet von Bozena Domanska (einer der Protagonistinnen des Films) in Zusammenarbeit mit dem VPOD Basel. Im Netzwerk RESPEKT@vpod können sich die Frauen austauschen und erhalten Informationen und Beratung.

Nach sechs Monaten Dreharbeiten und vielen Begegnungen und Gesprächen mit Betreuerinnen, Angehörigen und auch Agenturinhabern, vermeide ich es, die Lage der Betreuerinnen in der Schweiz aufgrund dieser Extremfälle einzuschätzen. Vielmehr liegt die Realität – so wie ich sie erlebt habe – irgendwo in der Mitte.

So habe ich viele zufriedene Betreuerinnen angetroffen, die sich glücklich schätzen, dieser Arbeit nachgehen und verhältnismässig viel Geld verdienen zu können. Die dafür aber auch viel in Kauf nehmen: Isolierung, Einsamkeit, die Belastung einer oft überfordernden Arbeit und die schmerzhafte Trennung von den eigenen Kindern in der Heimat.

Aufklärungsarbeit tut Not

Ich habe mit Agenturinhabern gesprochen, die darunter leiden, dass sie in der Presse einseitig abgeurteilt werden, was potentielle Kunden abschreckt. Oder mit verunsicherten Angehörigen, die nicht bereit waren, vor der Kamera über ihre Erfahrungen mit den Betreuerinnen zu sprechen – teils aus Scham vor Bekannten oder Nachbarn, diese Dienstleistung überhaupt zu beanspruchen ; teils aus Angst, die Betreuerin vielleicht doch nicht ganz pflichtgerecht angestellt zu haben.

Diese Unsicherheiten und Ungereimtheiten zeigen, dass der Markt der ausländischen 24h-Alters- und Pflegebetreuung ein noch relativ unkontrollierter und junger ist. Und darum umso dringender Aufklärungsarbeit getan werden muss.

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