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«Auf Italienisch bin ich strenger» – Pro Sprache eine Persönlichkeit?
Aus Input vom 27.09.2023. Bild: Shutterstock / Lightspring
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Phänomen Mehrsprachigkeit Emotion und Sprache: «Auf Italienisch bin ich strenger»

Viele mehrsprachige Menschen switchen mit jeder Sprache in ein anderes Ich: Sie streiten zurückhaltender auf Mandarin als auf Schweizerdeutsch, sind emotionaler auf Albanisch oder lösen Probleme am liebsten auf Englisch. Was steckt hinter dem Phänomen?

In der Familienküche rauscht der Dampfabzug, die Kinder kommen gerade nach Hause. «Mit ihnen spreche ich fast ausschliesslich Italienisch», erzählt Autorin und Yogalehrerin Elisa Malinverni im breitesten Berndeutsch. Ihre beiden Kinder antworten grundsätzlich auf Deutsch. Heute schiebt der ältere Sohn aber ein: «Mängisch parleni o Italiano!»

Wenn ich morgens meine Kinder antreiben muss, switche ich ins Berndeutsche.
Autor: Elisa Malinverni Autorin und Yogalehrerin

Es herrscht ein buntes Hin und Her, ein Switchen zwischen Italienisch und Berndeutsch in diesem Haus. Und doch: Für Elisa Malinverni hat jede Sprache ihre eigene Funktion. «Italienisch ist für mich einerseits die Sprache des Sprüche-Klopfens. Da ist dieser Flirt-Vibe, und ich kann meiner inneren Sophia Loren freien Lauf lassen. Italienisch hat aber auch eine gewisse Strenge, weil sie tief mit meiner Mutter, einer sehr autoritären Figur in meinem Leben, verbunden ist.»

Die Autorin Elisa Malinverni hat für verschiedene Facetten ihres Lebens eine andere Sprache.
Legende: Die Autorin Elisa Malinverni hat für verschiedene Facetten ihres Lebens eine andere Sprache. Maya Varenka Kovatsch

Was in ihrem eigenen Elternhaus noch verpönt war, das Switchen zwischen Italienisch und Deutsch, nutzt die zweifache Mutter heute bewusst als Tool im Alltag: «Wenn ich morgens meine Kinder antreiben muss, switche ich ins Berndeutsche. Dann bin ich weniger streng mit ihnen als auf Italienisch.»

Die «emotionale Resonanz» von Sprachen

«Sehr viele mehrsprachige Menschen nehmen einen Sprach- und Persönlichkeitsswitch wahr», sagt Jean-Marc Dewaele, Professor für angewandte Linguistik an der Birkbeck Universität in London.

Ursprünglich in Belgien aufgewachsen, kennt er das Phänomen aus eigener Erfahrung: «Gedichte lese und schreibe ich fast ausschliesslich auf Französisch. In der Familie sprechen wir viel Holländisch. Aber als Akademiker bin ich britisch: sowohl in der Wortwahl, als auch in der Haltung und im Habitus.»

Die mehrsprachige Schweiz in Zahlen

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Die Mehrsprachigkeit gehört zur kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Identität der Schweiz und ist gesetzlich verankert.

  • Die häufigste in der Schweiz gesprochene Sprache ist mit 62.3 Prozent Deutsch. Darunter subsummieren sich die hochdeutsche Standardsprache und die zahlreichen schweizerdeutschen Dialekte.
  • Für 22.8 Prozent der Bevölkerung ist Französisch die Hauptsprache, für 8.0 Prozent Italienisch, und für 0.5 Prozent Romanisch.
  • Offiziell mehrsprachig sind die vier Kantone Bern, Wallis, Freiburg und Graubünden – und die französisch-deutschsprachige Stadt Biel / Bienne.
  • 23.1 Prozent der Bevölkerung geben eine Nichtlandessprache als Hauptsprache an. Englisch (5.8 %) und Portugiesisch (3.5 %) sind die Fremdsprachen, die am häufigsten gesprochen werden - danach folgen Spanisch, Serbisch, Kroatisch und Albanisch.
  • Über 60 Prozent der Bevölkerung über 15 Jahre nutzen regelmässig mehr als eine Sprache – im Beruf, privat oder beim Medienkonsum.

Quelle: Bundesamt für Statistik

In zahlreichen Studien mit insgesamt 1500 Teilnehmenden erhärtete sich Jean-Marc Dewaeles These: 80 Prozent der untersuchten mehrsprachigen Menschen geben an, dass sie sich je nach Sprache anders verhalten. Im Hintergrund wirkt gemäss Dewaele die «emotionale Resonanz» von Sprachen.

Mehrsprachigkeit und Moral

Ein bekanntes Gedankenexperiment aus der Moralpsychologie macht die emotionale Resonanz von Sprachen greifbar: Fünf Menschen liegen gefesselt auf einem Gleis. Ein Zug fährt ungebremst auf sie zu. Nur Sie haben die Möglichkeit, den Zug zu stoppen, in dem Sie einen sehr kräftigen Menschen von einer Brücke herunter aufs Gleis stossen. «Would you do that? Tu le ferais? Würdest du das tun? Würsch das mache?»

Je nachdem, in welcher Sprache Ihnen das moralische Dilemma präsentiert wird, könnten Sie zu einem anderen Schluss kommen. Dies das Resultat aus einer 2014 veröffentlichten Studie der Universität Pompeu Fabra in Barcelona.

Studienteilnehmende reagierten in ihrer Erstsprache emotionaler, in der Zweitsprache rationaler.
Autor: Jean-Marc Dewaele Professor für angewandte Linguistik

In der Erstsprache entschieden sich noch 80 Prozent der Befragten dagegen, den Mann von der Brücke zu stossen. Auf Englisch, der Zweitsprache der Teilnehmenden, änderte sich das Verhältnis: Dreimal mehr Befragte gaben an, sie würden es tun, und entschieden dem Nützlichkeitsprinzip entsprechend, also utilitaristischer.

Die Studienleitenden kamen zu dem Schluss, dass die psychologische Distanz und der Pragmatismus in der Zweitsprache grösser sind, als in der Erstsprache. «Die Studienteilnehmenden reagierten in ihrer Erstsprache emotionaler, in der Zweitsprache rationaler», ergänzt Jean-Marc Dewaele, der mit der Studie vertraut ist.

Sprache, Migration und die Generationenfrage

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Das 3-Generationen-Modell aus der Migrationssoziologie (entwickelt in den 1970er-Jahren in den USA) bildet das Sprachverhalten in migrantischen Familien wie folgt ab:

    • Die erste Einwanderergeneration spricht die Sprache aus dem Herkunftsland fliessend und die neue Sprache oft nur bruchstückhaft.
    • Die zweite Generation ist meist zweisprachig. Hier ergänzt Jean-Marc Dewaele: «Die Secondos und Secondas empfinden aber oft in beiden Sprachen einen Druck zu beweisen, dass man zur jeweiligen Gesellschaft gehört – in der neuen, wie in der alten Heimat.»
    • Die dritte Generation spricht die Herkunftssprache der Grosseltern nicht mehr.

    Das Modell aus der klassischen Migrationssoziologie ist stark vereinfachend. Es geht davon aus, dass die dritte Generation die Sprache des «neuen» Heimatlandes aufnimmt. In der Realität beeinflussen sich aber Migrationssprachen und Landessprachen immer auch gegenseitig.

    Ein Beispiel dafür ist das Code-Switching zwischen Italienisch und Schweizerdeutsch, das unter Nachkommen der italienischen Migrationsbewegung weit verbreitet ist.

    Quelle: ZORA, Uni Zürich

Je nachdem, in welchem Kontext man eine Sprache gelernt hat, seien mehr oder weniger Emotionen damit verbunden: «Die Mutter- oder Erstsprache lernen wir im familiären, sehr emotionalen Kontext. Wenn wir eine Sprache in einem Klassenzimmer lernen, fehlt der sprachliche Zugang zur Gefühlswelt oft ganz. Bei der Erstsprache ist die emotionale Resonanz sehr gross, im zweiten Fall klein.»

Den Sprachenswitch bewusst anwenden

Wie Autorin und Yogalehrerin Elisa Malinverni können mehrsprachige Menschen den Switch aktiv nutzen. So kann es beispielsweise hilfreich sein, sich Gedanken über finanzielle Fragen in einer rationaleren Zweitsprache zu machen.

Auch in der Psychotherapie biete sich das Sprachenswitchen als Tool an, sagt Jean-Marc Dewaele. «Patienten können Traumata unter Umständen in einer rationaleren Zweitsprache leichter schildern. Zu einem späteren Zeitpunkt können diese in der Erstsprache ausgesprochen werden, auch wenn die Therapeutin die Sprache nicht versteht.»

Sprache als Facetten der eigenen Persönlichkeit

Sprachen können mit ihrer emotionalen Resonanz also wie Instrumente auf unterschiedliche Art und Weise in den Sprechenden anklingen. «Ich finde es etwas Wunderschönes, sich in verschiedenen Sprachen anders zu erleben», fasst Elisa Malinverni zusammen. «Man hat für fast jede Facette der eigenen Persönlichkeit eine eigene Sprache.»

Der Linguist Jean-Marc Dewaele ergänzt: Aus einer ursprünglichen Zweit- oder Fremdsprache könne auch eine neue Herzenssprache werden.

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Radio SRF 3, Input, 1.10.2023, 20:03 Uhr

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