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Philosoph im Gespräch «Wilhelm Tell war nicht viel anders als die Klimaaktivisten»

Störungen des Alltags wie das Blockieren von Strassen durch Klimaaktivisten sind für viele ein Ärgernis. Der Philosoph Dieter Thomä sagt aber: Momente des Störens gehören nicht nur zum Leben, sondern können uns produktiv weiterbringen. Er hofft auf künftige Störenfriede, die Brücken bauen – sodass die Gesellschaft als Ganzes darüber gehen kann.

Dieter Thomä

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Dieter Thomä (geb. 1959 in Heidelberg) war bis vor kurzem Professor für Philosophie an der Universität St. Gallen. In seinem Buch «Puer Robustus. Eine Philosophie des Störenfrieds» (2016) beschäftigt er sich mit Figuren, die Ordnungen durcheinanderbringen. Zuletzt erschienen ist von Dieter Thomä «Warum Demokratien Helden brauchen» (2019).

SRF: Kürzlich haben eine Aktivistin und ein Aktivist von Renovate Switzerland sich mitten in einem Konzert im KKL ans Dirigierpult geklebt und gerufen: «Wir haben einen Klimawandel, wir müssen jetzt handeln!», worauf sie von Teilen des Publikums als «Gesindel» beschimpft wurden. Verstehen Sie den Ärger?

Dieter Thomä: Nein. Es gibt heute keinen geschlossenen Raum mehr, die Klimakrise ist auch im KKL. Das ist eine typische Form des zivilen Ungehorsams, wo gestört, aber niemand verletzt wird.

Auch ich möchte lieber Bruckner hören, wenn ich mir eine teure Konzertkarte kaufe. Aber ich würde dem Publikum etwas Grosszügigkeit wünschen.

Auch innerhalb von Demokratien ist dies gewollt. Im nur zäh laufenden staatlichen Apparat macht es Sinn, wenn ab und zu jemand interveniert und auf Dinge aufmerksam macht, die dringend auf die Agenda müssen.

Gibt es nicht ein Anrecht auf störungsfreie Momente, gerade weil uns die Klimakrise so beschäftigt? Man möchte sich doch auch mal erholen.

Auch ich möchte lieber Bruckner hören, wenn ich mir eine teure Konzertkarte kaufe. Aber bei einer kurzen Unterbrechung würde ich dem Publikum ein gewisses Mass an Grosszügigkeit wünschen. Es stellt sich aber nicht nur die Frage, ob das Anliegen legitim ist, sondern auch, ob die gewählten Mittel die richtigen sind.

Und sind sie das in diesem Fall?

Nein, diese Form des Störens finde ich taktisch nicht gut. Es geht ja darum, für sein Anliegen ein Verständnis zu schaffen. Ich bezweifle, dass mit dieser Strategie andere mitziehen wollen.

Produktive Störenfriede wollen die Ordnung stören, um sie zu verbessern.

Die Frage ist aber auch, wie die Gesellschaft auf die Störung reagiert. Versucht sie, den Störenfried über den Rand zu drängen – oder sind Störenfriede in der Lage, eine Ausstrahlungskraft auf andere zu entwickeln?

Das ist wie bei einer Wippe, wo auf einer Seite viele sitzen und auf der anderen nur wenige. Wenn die wenigen auf ihrer Seite kräftig auf die Wippe springen, werden sie schwerer. Dadurch entwickelt sich eine Dynamik, die Wippe verschiebt sich – und andere rutschen immer mehr auf ihre Seite.

Ein Mann mittleren Alters mit Brille.
Legende: «Der produktive Störenfried par excellence ist für mich Wilhelm Tell», sagt Philosoph Dieter Thomä. IMAGO / Rudolf Gigler

Sie unterscheiden in Ihrem Buch «Puer Robustus» zwischen Querulanten, die in unproduktiver Weise stören wie beispielsweise die Stürmer aufs Kapitol in Washington, und den produktiven Störenfrieden. Was kennzeichnet Letztere?

Die produktiven Störenfriede wollen die Ordnung stören, um sie zu verbessern. Sie wollen – wie die Klimaaktivisten – die Ordnung nicht zusammenbrechen lassen, sondern eine neue, bessere Ordnung errichten, die die Menschheit voranbringt.

Ich hoffe auf Störenfriede, die Brücke bauen, sodass wir alle darüber gehen können.

Der produktive Störenfried par excellence ist für mich übrigens Schillers Wilhelm Tell. Er ist ein wilder Kerl, der zum Leidwesen seiner Frau dem Sohn den Apfel vom Kopf schiesst und auch seinen eigenen Landsleuten auf die Füsse tritt. Aber am Schluss ist die Schweiz eine andere. Was Wilhelm Tell macht, ist nicht so viel anders, als was die Klimaaktivisten machen. Es ist aber viel gewalttätiger.

Auf welche Störenfriede hoffen Sie in Zukunft?

Auf solche, die das Klimathema, bei dem wir nicht wissen, wie damit umgehen, zu einem Lieblingsthema der ganzen Gesellschaft machen. Die Brücken bauen, sodass wir alle darüber gehen können.

Dieses Interview ist ein Auszug aus der Sendung «Sternstunde Philosophie». Das Gespräch führte Barbara Bleisch.

SRF 1, Sternstunde Philosophie, 24.09.2023, 11 Uhr ; 

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