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Demokratie im Stresstest – Was Corona über Politik verrät
Aus Sternstunde Philosophie vom 05.04.2020.
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Philosoph Julian Nida-Rümelin «Die Corona-Krise kann die Demokratie stärken»

In vielen Ländern sind antidemokratische Kräfte im Aufwind, auch in einigen Mitgliedstaaten der EU. Die Corona-Situation scheint ihnen in die Hände zu spielen: Freiheitsrechte etwa lassen sich aktuell leicht ausser Kraft setzen.

Wie kann die Demokratie der Krise begegnen? Indem sie sich auf ihre Grundwerte besinnt und zugleich gross gedacht wird, sagt der Philosoph Julian Nida-Rümelin.

Julian Nida-Rümelin

Julian Nida-Rümelin

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Julian Nida-Rümelin, geboren 1954, ist Professor für Philosophie und politische Theorie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Seine wissenschaftlichen Schwerpunkte liegen in der Rationalitätstheorie, politischer Philosophie und Ethik.

Unter Gerhard Schröder war Nida-Rümelin Kulturstaatsminister, zudem stand er von 2009 – 2011 der Deutschen Gesellschaft für Philosophie vor. 2014 erhielt verlieh im die Bayerische Staatsregierung die Europa-Medaille für besondere Verdienste um den Freistaat Bayern in Europa und der Welt. Seit 2018 ist er Direktoriumsmitglied des neu gegründeten Bayerischen Forschungszentrums für digitale Transformation.

SRF: Im Kampf gegen das Coronavirus werden in demokratischen Staaten die Freiheitsrechte von Bürgerinnen und Bürger zum Teil massiv eingeschränkt. Sind solche Massnahmen angesichts der Notlage gerechtfertigt?

Julian Nida-Rümelin: Wenn es gelänge, mit diesen Massnahmen die Pandemie in sinnvoller Frist unter Kontrolle zu bringen, dann hielte ich sie für gerechtfertigt. Die meisten Fachleute meinen jedoch, dieser Zeitpunkt sei verpasst. Man könne die Ansteckungen im besten Falle noch hinauszögern – bis zu 18 Monate.

In mittel- und langfristigen Szenarien darf es keine Denkverbote geben.

Bei solch mittel- und langfristigen Szenarien darf es keine Denkverbote geben, die Situation neu zu beurteilen. Die reale Bedrohung durch das Coronavirus ist abzuwägen gegenüber den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Schäden, die durch die einschränkenden Massnahmen entstehen. Alles andere wäre unvernünftig.

In Ungarn versucht Victor Orban die Krise für sich zu nutzen: Er hat den Notstand ausgerufen und baut seine Macht aus. Auch in Polen greifen die Herrschenden nach mehr Vollmachten. Geraten die europäischen Demokratien durch die Corona-Krise in Gefahr?

Der Rechtsstaat ist in Polen, aber auch in Ungarn, ohnehin schon stark gefährdet. Es kann durchaus sein, dass dort die Situation ausgenutzt wird. Abgesehen von diesen Negativbeispielen bin ich aber eher optimistisch.

Ich habe den Eindruck, dass die Leute nun seriöse Politik und kohärentes Handeln erwarten - durchdachte Strategien, die diskutiert und der Öffentlichkeit erklärt werden. Und das kann eine Demokratie auch stärken.

In Deutschland beispielsweise funktioniert populistische Stimmungsmache zurzeit überhaupt nicht. Im Gegenteil: In Umfragen steigt aktuell das Ansehen der beiden Volksparteien CDU und SPD.

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«Tagesgespräch» zur Aushebelung der Demokratie in Krisenzeiten
aus Rendez-vous vom 25.03.2020. Bild: zvg
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Kann aus der aktuellen Krise auch etwas zur Bewältigung anderer globaler Probleme gelernt werden?

Die Krise kann etwa zum Anlass genommen werden, um sich Gedanken zur Mobilität zu machen – nicht nur im Bereich des Personen-, sondern auch des Güterverkehrs. Noch vor der Krise war es zum Beispiel ausgeschlossen, dass Deutschland die vertraglich abgemachten Klimaziele für das Jahr 2020 erreicht. Nun aber sagen die meisten Experten, diese Ziele werden «dank» der Corona-Krise erreicht.

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Julian Nida-Rümelin über Menschen und intelligente Maschinen
aus Tagesgespräch vom 20.12.2018. Bild: zvg
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Auch schon vor der Corona-Krise forderte die Globalisierung Demokratien heraus. Etwa durch die Abgabe von Souveränität zugunsten von übergeordnetem Recht und transnationalen Abkommen. Wie soll man dieser Herausforderung begegnen?

Weltprobleme wie Klimawandel oder Migration können nicht zwischen den Staaten «ausgefeilscht» werden. Die gegenwärtige Lage mit dem Rückfall auf ein nationalstaatliches Denken, beispielsweise in den USA oder in Grossbritannien, ist auch eine Reaktion auf das Versagen der Demokratie vor solch grossen Problemen. Wer eine funktionierende Demokratie will und keine Renationalisierung, der muss die Demokratie neu denken.

Es ist ja nicht nur das Wahlsystem, das eine Demokratie ausmacht.

Die Demokratie neu denken: Was ist darunter zu verstehen?

Ich nenne es einen republikanischen Kosmopolitismus. Dazu gehört es, über die Nationalstaaten hinaus globale Institutionen zu etablieren, die demokratisch legitimiert sind.

Buchhinweis

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  • Julian Nida-Rümelin: «Die gefährdete Rationalität der Demokratie. Ein poltischer Traktat», Edition Körber 2020.

Julian Nida-Rümelin sieht die Demokratie aktuell in einer Krise – nicht aber an deren Ende. Der Philosoph geht in seinem aktuellen Buch der Frage nach, was die Demokratie als Staats- und Gesellschaftsform ausmacht.

Von der Klärung dieser Frage verspricht er sich, Antworten zu erhalten auf die aktuellen Herausforderungen der Demokratie: Keimender Populismus von rechts und links, die Parzellierung des öffentlichen Diskurses durch die sozialen Medien und die Globalisierung.

Es beinhaltet aber auch eine Rückbesinnung auf demokratische Werte. Es ist ja nicht nur das Wahlsystem, das eine Demokratie ausmacht. Dazu gehört auch, dass Individualrechte gewahrt, Minderheiten miteinbezogen werden und dass das Zusammenleben kooperativ gestaltet ist. Die Geschichte zeigt, dass der Zusammenhalt in einer Gesellschaft wesentlich auf solchen solidarischen Werten beruht.

Das Gespräch führte Pascal Meier.

SRF 1, Sternstunde Philosophie, 05.04.20, 11:00 Uhr;

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