Das Patriarchat ist zwar vorbei, aber Ungerechtigkeiten zwischen den Geschlechtern gibt es weiterhin. Die Philosophin Svenja Flasspöhler fordert Frauen dazu auf, ihre Zurückhaltung abzulegen – auch die sexuelle.
SRF: Wieviel Patriarchat steckt noch in unserer Gesellschaft?
Svenja Flasspöhler: Ich halte es für falsch, davon zu reden, dass wir immer noch in einer patriarchalen Ordnung leben. Das Patriarchat im rechtlichen Sinne ist ja ganz klar vorbei. Mann und Frau sind vor dem Gesetz gleich.
Das heisst aber natürlich keineswegs, dass es nicht gesellschaftliche Ungleichheiten gibt: ungleich verteilte Ämter, ungleich hohe Löhne und so weiter. Das liegt daran, dass wir patriarchale Denkmuster immer noch tief in uns haben.
Wo zeigt sich im weiblichen Verhalten, dass das Patriarchat noch in unseren Köpfen steckt?
Weiblichkeit wird eng geführt mit Passivität, mit Zurückhaltung – und zwar gerade im sexuellen, aber auch im existenziellen Sinne.
Diese Zurückhaltung strahlt auch bis in die letzten Verästelungen unserer Existenz hinein. Nehmen Sie nur die Zurückhaltung von Frauen, wenn es um das Verhandeln von Gehältern geht.
Bedeutet das auch, dass Frauen, die mehr über ihr ureigenes sexuelles Begehren wissen, sich in der Gesellschaft besser durchsetzen können?
Na ja, ich will es nicht so rationalisieren. Es ist nicht so, dass man das einfach nur wissen muss und dann klappt es schon irgendwie. Aber es geht tatsächlich um ein Bewusstmachen von ganz alten Denkmustern.
Frauen sollten aktiver werden. Sie sollten auch den ersten Schritt machen.
Das ist eben nicht etwas, was man über schärfere Gesetze oder beispielsweise auch Quoten aus der Welt schaffen könnte.
Sie haben einmal gesagt, die sexuelle Revolution der Frau stehe eigentlich noch bevor. Ist es das, was sie damit meinen?
Ich denke tatsächlich, dass die sexuelle Revolution die Sexualität des Mannes befreit hat, aber nicht die weibliche Sexualität. Diese Befreiung steht tatsächlich noch aus.
Sie würde bedeuten, dass das weibliche Begehren nicht einfach nur als Spiegel des männlichen Begehrens gedacht wird, sondern auch aus dieser männlichen Logik befreit und als eigensinniges Begehren gedacht wird.
Müsste man dann nicht in letzter Konsequenz auch sagen, Frauen sollten in einem gewissen Sinn übergriffiger werden?
Ja, Frauen sollten aktiver werden. Sie sollten auch den ersten Schritt machen. Es ist doch tatsächlich denkbar, möglich und wünschenswert, dass die Frau die Initiatorin und die Verführerin ist.
Das war lange ein Sakrileg. Denken Sie an Medusa: Sie war die Verführerin schlechthin. Was ist ihr passiert? Sie wurde enthauptet.
Aber warum tun sich Frauen heute auch noch so schwer damit, gerade im sexuellen Bereich aktiv und offensiv zu sein?
Über die weibliche Sexualität und den weiblichen Körper wird viel stärker gewacht. Das führt dazu, dass wir heute immer noch von einer gesellschaftlichen Grenzüberschreitung sprechen müssen, wenn wir fordern, dass Frauen auch promisk sein und ihre Sexualität auch ausleben dürfen.
Wenn Frauen wirklich in ihre Potenz kommen, hat die Gesellschaft einen Vorteil davon.
Das erfordert ein hohes Mass an Autonomie. Es geht darum, daran zu arbeiten, dass wir Frauen uns das zutrauen und es uns zumuten. Autonomie ist nichts Leichtes. Es ist eine Aufgabe.
Was gewinnt die Gesellschaft, wenn Frauen sich aktiver um ihre Begehren kümmern?
Wenn Frauen wirklich in ihre Potenz kommen, hat die Gesellschaft einen Vorteil davon. Beispielsweise haben schon viele Unternehmen erkannt, dass weibliche Führungskräfte ein Gewinn sind, weil sie vielleicht anders führen und andere Prioritäten setzen. Insofern ist klar, dass die Gesellschaft von der Unterschiedlichkeit der Geschlechter profitiert.
Es gibt die Angst des Mannes vor der weiblichen Sexualität. Das wäre wohl die Aufgabe: diese Angst in Lust zu verwandeln.
Das Gespräch führte Susanne Schmugge.