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Philosophisch durch den Alltag Schäm' dich! Warum wir mehr Schamkompetenz brauchen

Wir schämen uns fürs Fliegen – aber in Sachen Selbstinszenierung sind wir ziemlich schamlos. Soll man sich schämen – und wenn ja, wofür lohnt es sich?

Weil der spätmoderne Mensch für vieles selbstverantwortlich gemacht wird, was er früher dem Schicksal überantworten konnte (Beziehungsstatus, Aussehen, Gesundheit zum Beispiel), steigen die Versagensmöglichkeiten. Und damit die Möglichkeiten für Scham, das Gefühl des Verfehlens von fremden und eigenen Erwartungen an sein ideales Selbst.

Zugleich aber folgt aus den zeitgenössischen Identitäts-Idealen von Rollensicherheit und authentischer Wesensgemässheit (die es übrigens nie gibt), dass die Scham selbst schambesetzt wird: Scham wird negativ und als Schwäche beurteilt, das Schamgefühl wird eindimensional als Folge von Machtausübung verstanden. Scham darf nicht gezeigt werden, weil sonst zugegeben würde, dass man von den Bewertungen anderer affiziert wird.

Philipp Tingler

Autor

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Philipp Tingler, geb. 1970 in West-Berlin, ist Schriftsteller und Philosoph. Zudem ist er Kritiker im SRF Literaturclub , beim SRF-Format « Steiner & Tingler » und seit 2020 Juror beim Bachmann-Preis in Klagenfurt.

Die Sache mit der Moral

Parallel erleben wir einen Verlust an Zivilisiertheit dadurch, dass die Beschämung als primitive soziale Sanktion wieder häufiger praktiziert wird. Das ist die direkte Folge einer Moralisierung von Bereichen, die früher als wertfrei angesehen wurden, zum Beispiel Fragen der Ernährung oder Mobilität.

Bereits von Immanuel Kant kennen wir die Zurückweisung der Moralisierung moralisch indifferenter Sachverhalte (fachsprachlich «Adiaphora» genannt), also beispielsweise: Schönheit, Reichtum, Gesundheit. Denn dies sind keine moralischen Kategorien, so ungern manche Leute das hören. Moralische Kritiken sind hier philosophisch nicht adäquat (andere schon).

Dennoch wird etwa das sogenannte Öko-Shaming, also der Vorwurf an andere, unseren Planeten zu ruinieren (Stichwort mit Blick auf die Mobilität: «Flugscham»), genauso gern moralisch untermauert wie zum Beispiel «Fat Shaming» als Sonderform des «Body Shaming» unter Hinweis auf die gesundheitlichen Folgen und Kosten von Übergewicht.

Ein Grundprinzip der Manieren

Scham ist nicht immer destruktiv. Sie schützt das Ich und die Gesellschaft. Der Zivilisationsstand einer Gesellschaft drückt sich nicht nur aus in der Diversität der in ihr vorhandenen Erlebens- und Verhaltensmöglichkeiten, sondern auch in der Vielfältigkeit ihrer Umgangsformen, Hemmungen und Verzichtleistungen.

Schambewehrte Rollenvorschriften, die soziale Systeme über ihre Mitglieder verhängen, dienen dem Grundprinzip von Manieren: Sich vor der Tür anders zu benehmen als zuhause, damit der geteilte öffentliche Raum imaginär erweitert und für alle erträglich werde.

Illustration von drei Menschen, die beschämt dreinschauen.
Legende: Ob wir uns selbst schämen – oder für andere: Wir alle kennen Scham. SRF / Sandra Bayer

Zu viel Indiskretion?

Denn Scham inspiriert vorbeugende Massnahmen. Man geht nicht nackt auf die Strasse. Und man sucht nach Rationalisierungen, Begründungen seiner Ansichten und Standpunkte, die einer vernünftigen Debatte standhalten könnten, damit man sich seiner Unvernünftigkeit nicht genieren müsste, falls es zur Diskussion kommt.

Unsere Zeit leidet womöglich daran, dass beide Arten von Vorbeugungen immer weniger geleistet werden. Es wird zu viel gezeigt, sowohl physisch wie an nackter Meinung. Auf der Strasse und online. Dieser ganze Tsunami indiskreter Technologien und der triviale Überschuss an Gegenwart. Wir hören und sehen zu viel, zu wenig begründet.

Scham ist universell

«Schamkompetenz» wäre also: Scham im Sinne zivilisierter Dezenz, als Voraussetzung für Empathie und Bremse der schrankenlosen Selbstbezüglichkeit und identitären Abgrenzung. Scham ist schliesslich universell, etwas, das uns alle verbindet.

Schamlosigkeit hingegen bedeutet eine Transgression, eine Überschreitung gesellschaftlicher Übereinkunft. Diese Überschreitung kann emanzipatorisches Potential haben. Das an seine Grenzen stösst, wo die Zumutungen Gesellschaft als zivilisierten Austausch unmöglich machen.

Das logische Komplement zur Scham war früher Ehre, heute ist es Würde. Und Schamlosigkeit mit Würde zu vereinbaren, ist ein Kunststück, das meist nur grossen Künstlern und Revolutionären gelingt.

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