Die Universität Freiburg würdigt Kardinal Pierbattista Pizzaballa mit dem Ehrendoktor in Theologie. Für die Auszeichnung reiste der lateinische Patriarch von Jerusalem eigens in die Schweiz. Im Interview mit SRF spricht er über seine Region zwischen Realität und Hoffnung – und darüber, wie er versucht, den Dialog wiederzubeleben.
SRF: Sie und Ihre Gemeinde in Israel und Gaza haben in letzten zwei Jahren Schlimmstes durchlebt. Wie geht es Ihnen heute?
Kardinal Pierbattista Pizzaballa: Okay. Wir sind alle müde. Nicht nur körperlich, auch spirituell, emotional, psychisch. Es ist schwer, einen Ausweg zu sehen. Der Druck war immens, auch auf mich als einen «Pastor», als lokalen Gemeindeleiter.
Es gibt noch Menschen, die anders denken wollen.
Sie sind Geistlicher. Können die Religionen Hoffnung schenken in Nahost?
Wenn wir Gläubigen nicht in der Lage sind, ein Wort der Hoffnung zu sprechen und Horizonte zu öffnen mit unserer Sprache, – was macht dann Glaube für einen Sinn? Das Vertrauen ist im Nahen Osten extrem herausgefordert: Zwischen Israelis und Palästinensern gibt es überhaupt kein Vertrauen. Es gibt Hass.
Die Israelis empfinden den 7. Oktober als eine Art «Mini-Schoah», als existentielle Bedrohung. Die Palästinenser wiederum glauben, die Israelis wollten sie alle, ja alle, ins Meer treiben. In diesem Kontext Vertrauen wieder aufzubauen, ist nicht einfach. Klar ist: Die politischen und leider auch die religiösen Institutionen zeigten ihre Schwäche. – Jetzt müssen wir auf die Basisbewegungen vertrauen. Denn es gibt noch Menschen, die anders denken wollen.
Wie schaffen Sie wieder mehr Vertrauen?
Nach 7. Oktober und Gaza-Krieg sind wir nicht in der Lage, einander zu begegnen und zu verstehen – mit wenigen Ausnahmen. Jeder ist so sehr in seinem eigenen Schmerz und seiner Perspektive gefangen, dass kein Raum für den Schmerz der anderen bleibt. Wir müssen aber zuerst den Schmerz der anderen wahrnehmen und dann Schritt für Schritt auch jene Themen ansprechen, die wir bisher vermieden haben.
Wenn Politik und Religion dasselbe sind, dann gibt es Autokratie und Tragödien – wie wir im Nahen Osten sehen.
Manche sagen, es wäre besser, Religion und Glauben beiseitezulassen, wenn es um politische Konflikte geht.
Im Nahen Osten, in Israel und Palästina bestimmt Religion kollektive Identitäten. Man kann sie nicht beiseitelegen. Religion, Glaube, Spiritualität sind Teil der Identität einer Person und einer Gemeinschaft. Wir alle brauchen Bezugspunkte, Werte. Aber wir müssen der Instrumentalisierung von Religion wehren. Politik und Religion sollten in einer gesunden Spannung bleiben. Wenn Politik und Religion dasselbe sind, dann gibt es Autokratie und Tragödien – wie wir im Nahen Osten sehen.
Wie kooperieren Sie mit anderen Religionen und Kirchen?
Niemand kann alles allein tun, besonders in unserem Kontext, wo jeder den anderen ausschliessen will. Im Bündnis der Religionen müssen wir zeigen: Gott hat nur ein Gesicht, und einer seiner Namen heisst Frieden, Schalom, Salam.
Was stimmt Sie zuversichtlich?
Es gibt viele Organisationen, Bewegungen, Freiwillige, die sich für Gewaltfreiheit einsetzen – nicht nur anklagen. Sie schaffen Begegnungen zwischen den Volksgruppen: sie spielen zusammen Fussball, organisieren Kurse für Kinder, Eltern, Mütter. Und sie informieren. Manchmal habe ich in diesen zwei Jahren Gott gefragt: «Wie lange noch?» Manchmal habe ich gesagt: «Gib mir ein Zeichen, dass du noch da bist, dass du unter uns wirkst» … dann treffe ich diese Menschen. Und ich spüre: Das ist seine Antwort.
Das Gespräch führte Judith Wipfler.