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Pierbattista Pizzaballa «Frieden braucht Zeit»: Jerusalemer Kardinal im Interview

Die Universität Freiburg würdigt Kardinal Pierbattista Pizzaballa mit dem Ehrendoktor in Theologie. Für die Auszeichnung reiste der lateinische Patriarch von Jerusalem eigens in die Schweiz. Im Interview mit SRF spricht er über seine Region zwischen Realität und Hoffnung – und darüber, wie er versucht, den Dialog wiederzubeleben.

Pierbattista Pizzaballa

Lateinischer Patriarch von Jerusalem

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Papabile Pierbattista Pizzaballa (* 21. April 1965) ist der Lateinische Patriarch in Jerusalem und eine der wichtigsten christlichen Stimmen im Nahen Osten. Der Franziskanermönch und polyglotte Theologe wurde gar als papabile (also als möglicher Kandidat für das Papstamt) gehandelt, wollte aber im Nahen Osten bei den leidgeprüften Menschen bleiben.

SRF: Sie und Ihre Gemeinde in Israel und Gaza haben in letzten zwei Jahren Schlimmstes durchlebt. Wie geht es Ihnen heute?

Kardinal Pierbattista Pizzaballa: Okay. Wir sind alle müde. Nicht nur körperlich, auch spirituell, emotional, psychisch. Es ist schwer, einen Ausweg zu sehen. Der Druck war immens, auch auf mich als einen «Pastor», als lokalen Gemeindeleiter.

Es gibt noch Menschen, die anders denken wollen.

Sie sind Geistlicher. Können die Religionen Hoffnung schenken in Nahost?

Wenn wir Gläubigen nicht in der Lage sind, ein Wort der Hoffnung zu sprechen und Horizonte zu öffnen mit unserer Sprache, – was macht dann Glaube für einen Sinn? Das Vertrauen ist im Nahen Osten extrem herausgefordert: Zwischen Israelis und Palästinensern gibt es überhaupt kein Vertrauen. Es gibt Hass.

Kirchlicher Würdenträger winkt Menschenmenge zu, umgeben von Bäumen.
Legende: Pierbattista Pizzaballa besucht im Juni 2021 die römisch-katholische Gemeinde der Heiligen Familie in Gaza-Stadt. Imago/NurPhoto

Die Israelis empfinden den 7. Oktober als eine Art «Mini-Schoah», als existentielle Bedrohung. Die Palästinenser wiederum glauben, die Israelis wollten sie alle, ja alle, ins Meer treiben. In diesem Kontext Vertrauen wieder aufzubauen, ist nicht einfach. Klar ist: Die politischen und leider auch die religiösen Institutionen zeigten ihre Schwäche. – Jetzt müssen wir auf die Basisbewegungen vertrauen. Denn es gibt noch Menschen, die anders denken wollen.

Wer ist Pierbattista Pizzaballa?

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  • Geboren 1965 in der italienischen Provinz Bergamo
  • 1984 wird er Franziskanermönch
  • Seit 1990 lebt er in Jerusalem (Studien- und Lehrtätigkeiten)
  • Er lernt fliessend Neu-Hebräisch, Arabisch und Englisch, um mit seiner multiethnischen Gemeinde in Israel kommunizieren zu können
  • 2004 wurde er Kustos im Heiligen Land:
  • Das gab ihm die Oberaufsicht über alle römisch-katholischen heiligen Stätten im östlichen Mittelmeerraum. Mit deren Pflege sind die Franziskaner seit dem 14. Jh. betraut. Sie unterhalten hier Schulen, Universitäten, Kirchen, Klöster, archäologische Stätten und Museen, etwa auf der Via Dolorosa in Jerusalems Altstadt
  • 2020 ernannte ihn Papst Franziskus zum Lateinischen Patriarchen von Jerusalem:
  • Dazu gehören rund 320’000 römisch-katholischen Gläubige verschiedenster Nationalitäten. Das Patriarchat umfasst Israel, die palästinensischen Gebiete, Jordanien und Zypern. Ferner präsidiert er die pan-arabische römisch-katholische Bischofskonferenz.
  • Pierbattista Pizzaballa hält viele Ehrentitel und Funktionen, etwa in kirchlichen Orden. Im November 2025 erhielt der die Ehrendoktorwürde der Universität Freiburg CH

Wie schaffen Sie wieder mehr Vertrauen?

Nach 7. Oktober und Gaza-Krieg sind wir nicht in der Lage, einander zu begegnen und zu verstehen – mit wenigen Ausnahmen. Jeder ist so sehr in seinem eigenen Schmerz und seiner Perspektive gefangen, dass kein Raum für den Schmerz der anderen bleibt. Wir müssen aber zuerst den Schmerz der anderen wahrnehmen und dann Schritt für Schritt auch jene Themen ansprechen, die wir bisher vermieden haben.

Wenn Politik und Religion dasselbe sind, dann gibt es Autokratie und Tragödien – wie wir im Nahen Osten sehen.

Manche sagen, es wäre besser, Religion und Glauben beiseitezulassen, wenn es um politische Konflikte geht.

Im Nahen Osten, in Israel und Palästina bestimmt Religion kollektive Identitäten. Man kann sie nicht beiseitelegen. Religion, Glaube, Spiritualität sind Teil der Identität einer Person und einer Gemeinschaft. Wir alle brauchen Bezugspunkte, Werte. Aber wir müssen der Instrumentalisierung von Religion wehren. Politik und Religion sollten in einer gesunden Spannung bleiben. Wenn Politik und Religion dasselbe sind, dann gibt es Autokratie und Tragödien – wie wir im Nahen Osten sehen.

Mann in Kardinalsrobe und Frau im Talar schütteln Hände, Schweizer Flagge im Hintergrund.
Legende: Kardinal Pierbattista Pizzaballa erhält beim Dies academicus der Universität Freiburg die Ehrendoktorwürde in Theologie von Professorin Veronika Hoffmann. Keystone/Cyril Zingaro

Wie kooperieren Sie mit anderen Religionen und Kirchen?

Niemand kann alles allein tun, besonders in unserem Kontext, wo jeder den anderen ausschliessen will. Im Bündnis der Religionen müssen wir zeigen: Gott hat nur ein Gesicht, und einer seiner Namen heisst Frieden, Schalom, Salam.

Was stimmt Sie zuversichtlich?

Es gibt viele Organisationen, Bewegungen, Freiwillige, die sich für Gewaltfreiheit einsetzen – nicht nur anklagen. Sie schaffen Begegnungen zwischen den Volksgruppen: sie spielen zusammen Fussball, organisieren Kurse für Kinder, Eltern, Mütter. Und sie informieren. Manchmal habe ich in diesen zwei Jahren Gott gefragt: «Wie lange noch?» Manchmal habe ich gesagt: «Gib mir ein Zeichen, dass du noch da bist, dass du unter uns wirkst» … dann treffe ich diese Menschen. Und ich spüre: Das ist seine Antwort.

Das Gespräch führte Judith Wipfler.

Radio SRF 2 Kultur, Perspektiven, 16.11.2025, 08:30 Uhr ; 

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