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Lust am Beten und Verdauen
Aus Perspektiven vom 21.12.2019. Bild: SRF / Sébastien Thibault
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Plädoyer gegen Gebetsroutine Nur am stillen Örtchen sollte keiner beten

In «Die Kunst des Betens» plädiert der jüdische Psychologe Gabriel Strenger für lustvolleres Beten im Alltag. Das tue selbst der Verdauung gut.

Von Kindheit an betet Gabriel Strenger mindestens dreimal täglich. Der Psychotherapeut ist jüdisch-orthodox aufgewachsen und kann sich nicht erinnern, je in seinem Leben nicht gebetet zu haben.

Aus eigener Erfahrung weiss er: Wer täglich immer wieder dieselben Sprüche und Gebete sagt, läuft Gefahr, die Texte irgendwann herunterzuleiern. Darum hat er das Buch «Die Kunst des Betens» geschrieben, in dem er sein Wissen als klinischer Psychologe mit dem Traditionswissen der jüdischen Mystik, der Kabbala, kombiniert.

Gegen zu viel Gebetsroutine

Das Buch publizierte Gabriel Strenger zuerst auf Hebräisch in Israel, wo der gebürtige Basler seit 1984 lebt. Seine christlichen und muslimischen Dialogpartnerinnen und Schüler in Deutschland und der Schweiz ermunterten ihn, das Buch nun auch auf Deutsch heraus zu bringen.

Buchhinweis

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Gabriel Strenger: «Die Kunst des Betens. Spiritueller Leitfaden zum jüdischen Gebetbuch», Morascha Verlag 2019.

Es wurde ein spiritueller Leitfaden, mit dem man das ganze (dicke) jüdische Gebetbuch durchmeditieren kann. Eine Art Anleitung, um das alltägliche Beten aus der Routine zu holen.

Beten auf der Toilette ist tabu

Und diese Routine ist umfassend. Zu den Hauptgebeten kommen ungezählte Segensworte pro Tag: vor dem Essen, beim Händewaschen, beim Brot-in-den-Ofen-Schieben, vor dem Sex und – ja – auch nach dem Stuhlgang.

Die Toilette selbst ist einer der wenigen Orte, wo fromme Jüdinnen und Juden nicht beten. Es hängt auch keine Mesusa, keine Schriftkapsel, an der Toilettentür, anders als an den anderen Türen im jüdischen Heim. Die hygienische wie geistliche Trennung des Örtchens von den anderen Räumen sei wichtig, sagt Gabriel Strenger.

Danken für die Verdauung

Seinen Lieblingssegenspruch sagt er darum auch erst, nachdem er «das Hüsli» verlassen hat. Und zwar beim Händewaschen. Das hat – wiederum typisch für jüdische Haushalte – an einem sich ausserhalb der Toilette befindlichen Lavabo zu erfolgen.

Der Segensspruch heisst auch «Segenspruch des Badezimmers». Nach dem Stuhlgang, den viele ja als erlösend empfinden, lobt der Mensch Gott wie folgt:

«Der den Menschen in Weisheit geformt und an ihm viele Öffnungen und viele Höhlungen geschaffen hat,

es ist vor dem Thron Deiner Herrlichkeit offenbar und bekannt, dass, wenn eine von ihnen sich öffnen oder eine von ihnen sich schliessen würde, es nicht möglich wäre zu existieren und vor Dir zu stehen,

Quelle aller Fülle bist Du, Ewiger, der alles Fleisch heilt und wirkt Wunder!»

Leben und Glauben sind eins

Wie das jüdische Morgengebet für das Aufwachen dankt, so dankt auch dieser Segensspruch für die Wiederkehr der leiblichen Lebensfunktionen. Gläubige danken ihrem Schöpfer, dass «alles funktioniert».

Aus dem «Segensspruch des Badezimmers» sprechen jüdisch-orthodoxe Grundhaltungen: Das physische Leben und gelebter Glauben sind eins. Und: Ehre Deinen Körper als Geschenk Gottes.

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