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Porträt liberaler Imamin «Es gibt eine Menge Leute, die bereit sind, mich zu töten»

2017 gründete Seyran Ateş in Berlin eine Moschee, wo Frauen und Männer Seite an Seite beten. Seither wird die Juristin und Imamin gefeiert, bedroht und angefeindet.

Bereits als kleines Mädchen regte sich Seyran Ateş darüber auf, dass sie als weiblicher Mensch weniger wert war, weniger durfte und strengeren Kleidervorschriften zu entsprechen hatte als ihre Brüder.

Sie rebellierte – gegen das Elternhaus, gegen die restriktive Gesellschaft. Ateş wurde Klassensprecherin, dann Anwältin, wurde bedroht, angefeindet und als 21-Jährige lebensgefährlich verletzt.

Heute lebt Seyran Ateş in Berlin, wo sie seit 2017 die Ibn-Ruschd-Goethe-Moschee leitet. Es ist das erste muslimische Gotteshaus, das sich nach eigenen Angaben um eine geschlechtergerechte Auslegung des Korans und der Hadithen bemüht.

Und wiederum wird sie bedroht, mit Hassmails aus muslimischen Kreisen eingedeckt und erhält rund um die Uhr Polizeischutz. «Es gibt eine Menge Leute, die bereit sind, mich zu töten», erzählt sie.

Audio
2017: Seyran Ateş liberale Moschee – erste Bilanz
aus Blickpunkt Religion vom 19.11.2017. Bild: Imago/Reiner Zensen
abspielen. Laufzeit 15 Minuten 43 Sekunden.

Seyran Ateş trifft einen Nerv

«Seyran Ateş legt den Finger in die Wunde. Sie spricht das an, was viele Musliminnen und Muslime beschäftigt. Deshalb wird sie so massiv bedroht», erklärt Amir Dziri, Professor für Islamstudien an der Universität Freiburg. Gerade Jugendliche würden mit ihren Fragen nach Identität und sexueller Ausrichtung vom offiziellen Islam oft allein gelassen.

Was Ateş anspreche, sei bekannt. Aber dass sie es ausspricht und so in die Mehrheitsgesellschaft trägt, mache sie für viele zur Verräterin. «Sie bedient nicht das Opfernarrativ der Eingewanderten, sondern fordert Leistung, Assimilation und einen fortschrittlichen, toleranten und offenen Glauben. Dass sie Türkin ist, macht die Sache nicht besser, sondern schlimmer», so Dziri.   

Kampf gegen das Patriarchat

«Ich bin sicher, dass viele Leute – Frauen und Männer – auf eine religiöse Führerin wie Seyran Ateş gewartet haben», sagt Nefise Özkal Lorentzen, die in den letzten Jahren einen Dokumentarfilm über Seyran Ateş drehte und mit ihr nach Norwegen, Spanien und China reiste.

«Ich habe nichts gegen den Islam, ich bekämpfe das Patriarchat», sagt Ateş im Film mehrmals, und: «Der Islam braucht eine sexuelle Revolution.»

eine Frau legt einen Gebetsteppich hin
Legende: Die Eröffnung der liberalen Ibn Rushd-Goethe Moschee stiess 2017 auf grosses Interesse. KEYSTONE/DPA/Maurizio Gambarini

«Nicht nur die muslimischen, sondern auch die westlichen Gesellschaften brauchen eine sexuelle Revolution», sagt Meriam Mastour von den «Foulards violets», einem feministischen Kollektiv mit Sitz in Genf, das gegen die Diskriminierung muslimischer Frauen kämpft.

In allen Gemeinschaften – ob christlich, jüdisch oder muslimisch – dominieren patriarchale Strukturen. Die heiligen Texte werden so interpretiert, dass Frauenfeindlichkeit und Homophobie gefördert werden. Seyran Ateş kämpfe also gegen ein globales Problem, so Mastour.

Gegenseitiges Kritisieren bringt nichts

So weist Mastour darauf hin, dass die «Ehe für alle» 2021 vor allem wegen der Frauen deutlich angenommen wurde: «Die Schweizer Männer haben der Vorlage auch zugestimmt, aber weniger deutlich.»

Dieses Beispiel zeige, wie einfach und oft falsch es sei, mit erhobenem Zeigefinger auf andere Religionsgruppen zu zeigen, sagt Amir Dziri. Auf der anderen Seite täten sich muslimische Gemeinschaften schwer, Kritik zu akzeptieren – vor allem wenn diese von aussen, etwa von einer westlich geprägten Gesellschaft, komme.

Zwischen Heimat und Gastland

Man dürfe auch nicht vergessen, dass die Einwanderung von Musliminnen und Muslimen nach Europa ein relativ neues Phänomen sei. Nicht nur die erste Generation war hin- und hergerissen zwischen Heimat und Gastland, die dritte und vierte Generation sei es genauso: «Viele Jugendliche kriegen es nicht geregelt, sich zwischen Tradition und Familie, Verein und Popkultur zurechtzufinden.» Viele muslimische Gemeinschaften sähen das Bedürfnis, hätten aber wenig zu bieten.     

Deshalb seien Initiativen wie jene von Seyran Ateş wichtig, aber «Veränderungen brauchen Zeit», so Islamstudien-Professor Dziri. «Irgendetwas klappt nicht für manche europäische Muslime. Das spürt sie. Und das macht sie authentisch.»

Auch wenn Ateş keine theologische Ausbildung habe, liege ihr etwas am Glauben. Das sei das Wichtigste.

SRF 1, Sternstunde Religion, 24.04.2022, 10:00 Uhr

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