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Psychiatrische Klinik Waldhaus Wo die Jenischen als «entartet, unsittlich, verrückt» galten

Bündner Psychiater legten den Grundstein für die Verfolgung und Diskriminierung der Jenischen in der Schweiz. Ihre Untersuchungen über jenische Familien wurden auch von Vordenkern der NS-Rassenlehre in Berlin gelesen.

In der Schweiz wurden jenische Menschen, eine nationale Minderheit und traditionell reisende Bevölkerungsgruppe, jahrzehntelang verfolgt: Mitarbeitende der Pro Juventute, einer Stiftung, die sich eigentlich für Kinderrechte einsetzt, entrissen bis 1972 über 600 Kinder ihren Eltern und brachten sie in Bauernfamilien oder Kinderheimen unter.

Schätzungen zufolge geht die Zahl der entrissenen jenischen Kinder gar gegen 2000. Denn auch staatliche Behörden und weitere Institutionen wie das Seraphische Liebeswerk nahmen Fremdplatzierungen vor.

Viele dieser Kinder sahen ihre Familien nie wieder, sie wurden misshandelt und waren für den Rest ihres Lebens als Menschen zweiter Klasse abgestempelt. Manche Fachleute sprechen heute von Völkermord .

Eugeniker aus Chur

Die Suche nach der ideologischen Basis dieser Verfolgung führt nach Graubünden, in die Psychiatrische Klinik Waldhaus in Chur, gegründet 1892. Schon deren erster Direktor, Johann Joseph Jörger, bezeichnete die Jenischen als «entartet, gemütsroh, unsittlich, verrückt».

Schwarz-Weiss Bild einer Klinik vor Bergkulisse
Legende: In der Klinik Waldhaus in Chur verfassten die Psychiater stigmatisierende Gutachten über Jenische. STAGR

Es gebe «kein anderes Mittel als die ganz frühe Entfernung der Kinder aus der Familie und eine möglichst gute Erziehung und Hebung auf ein höheres soziales Niveau», schrieb Jörger 1905 in seinem Buch «Psychiatrische Familiengeschichten».

Referenz für Berliner NS-Rassenlehre

Jörgers Werke wurden vom «Archiv für Rassen- und Gesellschafts-Biologie» in Berlin herausgegeben und von Eugenikern in Deutschland mit Interesse aufgenommen. Auch Robert Ritter, unter Hitler der Kopf der «Rassenhygienischen Forschungsstelle» in Berlin, berief sich unter anderem auf den Bündner Johann Joseph Jörger.

Aufsicht auf eugenische Archiv-Dokumente aus den 30er-Jahren
Legende: Generationen von Bündner Klinikdirektoren diffamierten die Jenischen in ihren Büchern. Filmstill aus: «Einblicke in die Psychiatrie»

Die Folge der pseudowissenschaftlichen Studien: In Deutschland wurden Hunderttausende Sinti, Roma und Jenische als «minderwertig» taxiert, fürchterlichen medizinischen Experimenten unterzogen und in Konzentrationslagern in den Tod geschickt.

Der Begriff der Eugenik

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Die Eugenik ist die Lehre und Forschung der vermeintlichen «guten» Erbanlagen. Sie zielt darauf ab, die Vererbung von gewünschten Eigenschaften zu fördern und unerwünschte Merkmale zu minimieren.

Im nationalsozialistischen Deutschland wurde die Eugenik unter dem Begriff der «Rassenhygiene» bekannt. Doch sie war vor allem in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch in demokratischen Ländern ein beliebtes Forschungsfeld der Wissenschaft, so auch in der Schweiz.

Jenische Frauen unter Beobachtung

In der Schweiz dienten Jörgers Werke ab 1926 der Stiftung «Kinder der Landstrasse», ein Projekt der Pro Juventute, zur Legitimation für die Auflösung von Dutzenden von jenischen Familien. Ins Visier gerieten vor allem die Frauen.

Drei Kinder und ein Mann von hinten und in Winterkleidung auf einem verschneiten Weg. Bild ist schwarz-weiss
Legende: Alfred Siegfried, Gründer des sogenannten Hilfswerks «Kinder der Landstrasse», entriss Hunderte jenische Kinder ihren Eltern. Filmstill aus: «Die letzten freien Menschen» 1991

«Man wollte verhindern, dass die jenischen Frauen die fahrende Lebensweise in die sesshaften Familien hineintragen und so die ganze Gesellschaft verderben», erklärt Hans Caprez, der die Verfolgung der Jenischen als Journalist beim «Beobachter» dokumentierte. Deshalb zwang man jenische Frauen zur Sterilisation und nahm ihnen ihre Kinder weg.

Traumatische Erfahrungen im Kinderheim

Eines dieser Kinder war Viola Marino (Name geändert), die aus einer jenischen Familie aus Graubünden stammte. Marino verbrachte ihre Kindheit in verschiedenen Heimen und Pflegefamilien.

Autorin Mariella Mehr in der Bündner Psychiatrie

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Auch die jenische Schriftstellerin Mariella Mehr (1947 bis 2022) wurde mehrmals in der Bündner Psychiatrie behandelt. In der Klinik Waldhaus versuchte man sie mit Elektroschock zu disziplinieren. In ihren Büchern «Von Mäusen und Menschen» und «Zeus oder der Zwillingston» (vor Kurzem neu aufgelegt vom Limmat Verlag) setzt Mehr der Bündner Psychiatrie ein bitterböses Denkmal. Klinikdirektor Benedikt Fontana ist unschwer als «Bonifazius Wasserfallen» zu erkennen.

«Als Bettnässerin bekam ich zur Strafe kein Frühstück und musste mit dem nassen Leintuch im Esssaal stehen, verspottet von den anderen Kindern», erinnert sich Marino im Dokumentarfilm «Die letzten freien Menschen» von Oliver M. Meyer 1991.

Viola Marino wehrte sich und wurde umso härter bestraft. Mit 16 Jahren wurde sie ins berüchtigte Gefängnis von Bellechasse gebracht – ohne Prozess und ohne Urteil. Sie verbrachte drei Jahre in Bellechasse – die schlimmste Erfahrung ihres Lebens.

Kein Bruch mit der Geschichte bei Kriegsende

Anders als in Deutschland stellte das Ende des Zweiten Weltkriegs in der Schweiz keinen Bruch mit der Vergangenheit dar. Gerade in Graubünden hielten Generationen von Psychiatern an den stigmatisierenden Praktiken fest. Sie verfassten nicht nur diffamierende pseudo-wissenschaftliche Werke, sondern fertigten Gutachten an, die jenische Frauen und Männer als «gewalttätig», «alkoholsüchtig» oder «moralisch schwachsinnig» bezeichneten.

Zwei Personen gehen einen langen Flur entlang. Das Bild ist schwarz-weiss
Legende: Das Gefängnis Bellechasse im Kanton Freiburg. Hier landeten über Hundert «Kinder der Landstrasse» – obwohl sie niemals straffällig geworden waren. Filmstill aus: «Die letzten freien Menschen» 1991

Waldhaus-Direktor Gottfried Pflugfelder beschimpfte die Jenischen noch 1961 in einem Artikel als «Parasiten dieser Gesellschaft» und betonte: «Als erbbiologisches und soziologisches Schulbeispiel darf das Bündner Vagantentum ein besonderes wissenschaftliches Interesse beanspruchen.»

Anti-jenische Tradition in Graubünden bis 1991

1972 beendete die Stiftung «Kinder der Landstrasse» ihre Aktivitäten auf Druck der Öffentlichkeit. Eine Artikelserie von Hans Caprez im «Beobachter» war der Auslöser. In Graubünden stand jedoch bis 1991 ein Mann der Klinik Waldhaus vor, der ganz in der Tradition seiner Vorgänger stand: Benedikt Fontana.

Portrait von Benedikt Fontana in Anzug und Krawatte
Legende: Klinikdirektor Benedikt Fontana verteidigte die anti-jenischen «Forschungen» noch bis zu seiner Pensionierung 1991. PDGR

In seiner Dissertation listet Fontana Genealogien jenischer Familien auf. Ein dünnes Heft von 58 Seiten, gespickt mit diffamierenden Aussagen wie dieser: «Bis zur Volljährigkeit war sie in verschiedenen Anstalten, wo immer wieder ihre Frechheit und ihr zänkisches Wesen hervorgehoben wurden. In Freiheit versagte sie immer wieder. Schliesslich wurde sie begutachtet, und man bezeichnete sie als debil, haltlos, moralisch schwachsinnig.»

Vergeblicher Widerstand

Viola Marino, das Mädchen aus dem Kinderheim, staunte nicht schlecht, als sie Jahrzehnte später Fontanas Dissertation in die Hände bekam. Inzwischen lebte sie als Hauswartin und Mutter ein unauffälliges Leben, trotz traumatisierenden Erfahrungen in der Kindheit.

Fontana hatte nie mit ihr persönlich gesprochen, sondern für seine Doktorarbeit lediglich die Gutachten seiner Vorgänger kopiert. Deshalb verlangte Viola Marino vom Kanton Graubünden, dem Direktor der Klinik Waldhaus den Doktortitel zu entziehen. Vergeblich.

Filmhinweis: «Einblicke in die Psychiatrie»

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Der zweiteilige Film «Einblicke in die Psychiatrie» von Christina Caprez geht den Wurzeln der Jenischen-Verfolgung in der Bündner Psychiatrie nach. Ausserdem berichtet er von Leukotomien – Gehirnoperationen, die in Graubünden noch bis in die 1970er-Jahre durchgeführt wurden, um vor allem Frauen weniger aggressiv zu machen. Der Film basiert auf der Studie «Versorgen, behandeln, pflegen. Geschichte der Psychiatrie in Graubünden» .

«Dr. med. Benedikt Fontana hat seine Dissertation als Privatperson und nicht im Auftrage des Kantons verfasst», teilte der Kanton mit. «Die Dissertation ist im Übrigen von der medizinischen Fakultät der Universität Bern ohne Vorbehalte angenommen worden.»

So blieb Fontana noch bis zur Pensionierung 1991 in Amt und Würden. Dann erst begann auch in der Bündner Psychiatrie eine neue Ära.

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Hinweis: Ein Abschnitt über die Zahl der entrissenen Kinder wurde nachträglich hinzugefügt.

SRF1, Schweiz Aktuell, 2.10.2023, 19:00 Uhr

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