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Psychologe Peter Schneider «ADHS ist auch ein ‹konstruiertes› Problem der Schule»

Die explosionsartige Zunahme psychiatrischer Diagnosen ist ein Problem der modernen Gesellschaft, sagt Psychoanalytiker Peter Schneider. Solche Diagnosen können helfen, aber auch stigmatisieren. Schneider fordert mehr Gelassenheit im Umgang mit psychischen Krankheiten.

Peter Schneider

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Peter Schneider ist 1957 in Deutschland geboren. Er studierte Philosophie, Germanistik und Psychologie. Heute lebt er in Zürich und arbeitet als Psychoanalytiker in einer eigenen Praxis.

Schneider ist Privatdozent für klinische Psychologie an der Universität Zürich sowie an der internationalen Universität für Psychoanalyse in Berlin. Ausserdem betätigt er sich als Satiriker und Kolumnist und ist Autor verschiedener Bücher.

SRF: Sie sind Psychoanalytiker und bezeichnen sich selbst als Ex-Zwangsneurotiker mit einem Hang ins Depressive. Haben Sie sich auf die eigene Couch gelegt und sich selbst analysiert?

Peter Schneider: Ich habe es immer wieder mal versucht, aber allein bringt das nicht so viel. Ich habe aber eine Analyse bei jemand anderem absolviert. Erstaunlicherweise hat sie geholfen, denn Zwangsneurotiker gelten eigentlich als hartnäckige Fälle.

Auf dem Sofa liegen und reden klingt gemütlich. Viele erzählen aber, eine Analyse sei unglaublich anstrengend. Warum eigentlich?

Das hat mit den Widerständen zu tun, die eine Analyse aufdeckt. Sigmund Freud behauptete, dass die analytische Arbeit ins Stocken gerät, wenn sich gegen die Entdeckung von etwas Unbewusstem Widerstand formiert. Diese innerpsychische Abwehr zu überwinden, kann harte Arbeit sein.

Die Diagnose-Handbücher psychischer Krankheiten werden immer dicker. In Ihrem Buch zeigen Sie auf, dass diese Entwicklung problematisch ist. Weshalb?

Die zunehmende Pathologisierung bringt das Problem, dass man einerseits eine Diagnose stellen möchte und andererseits ständig von Begleiterkrankungen redet.

Wenn man die Kinder immer nur nach draussen in den Wald schicken würde, käme niemand darauf, dass sie ADHS haben könnten.

Anstatt einer vernünftigen Beschreibung der Fallgeschichte hat man zehn verschiedene Diagnosen, die nebeneinander existieren. Das ist unbefriedigend.

Schafft also erst die Diagnose den Kranken?

Die Diagnose-Manuals von Expertengruppen entstehen in einem Prozess: Etwas Unklares wird nachgezeichnet, verfestigt sich nach und nach und wird irgendwann von der Gesellschaft entsprechend verstanden.

Das Burnout war solch ein Fall. Mit der Zeit fühlten sich viele Betroffenen mit dem Burnout besser beschrieben als mit der Depression.

Ein weiteres Beispiel einer «Modediagnose» ist ADHS. Gibt es das überhaupt?

Objektiv messbare biologische Merkmale dafür gibt es nicht, aber es gibt Verhaltensweisen, die einen Leidensdruck erzeugen und eine Behandlung erforderlich machen.

ADHS ist aber auch ein «konstruiertes» Problem der Schule. Wenn man die Kinder immer nur nach draussen in den Wald schicken würde, käme niemand darauf, dass sie ADHS haben könnten.

Etwas als Krankheit zu definieren kann stigmatisieren und zugleich entlasten.

Ja, denn mit einer ADHS- oder einer Autismus-Diagnose kann man sich die entsprechende Hilfe und Betreuung holen. Das mag etwas Pathologisierendes an sich haben, aber es eröffnet die Möglichkeit, betroffene Kinder besser betreuen zu können.

Eine Diagnose eröffnet die Möglichkeit, Betroffene besser betreuen zu können.

Für viele Autisten ist zum Beispiel die Erfindung der sozialen Medien eine unglaubliche Befreiung und Entlastung. So fällt nämlich das vermeintliche Kernsymptom der Unfähigkeit zur sozialen Kommunikation von Autisten schlicht weg.

Buchhinweis

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Peter Schneider: «Normal, gestört, verrückt. Über die Besonderheiten psychiatrischer Diagnosen.» Schattauer, 2020.

Homosexualität war bis 1992 im Diagnose-Handbuch der WHO enthalten. Mit der Entfernung aus der Liste hat sich die «Krankheit» in Luft aufgelöst. Wäre diese Form der «Wunderheilung» auch bei anderen Diagnosen denkbar?

Am ehesten bei der Transsexualität, welche im aktuellen Handbuch immer noch teilweise pathologisiert wird. Beim Autismus glaube ich, dass insbesondere durch die technischen Möglichkeiten eine grosse Veränderung stattfinden wird.

Ähnlich wie bei der Homosexualität gibt es auch bei den Autisten viele Personen, die sich für die Interessen der Betroffenen stark machen. So gibt es neben der «Gay Pride» auch eine «Autistic Pride».

Das Gespräch führte Barbara Bleisch.

Das Interview ist eine verkürzte Fassung des Gesprächs in der «Sternstunde Philosophie».

Seundung: SRF 1, Sternstunde Philosophie, 17.1.2021, 11:00 Uhr ; 

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