Grace Young steht an der Mott Street, Ecke Bayard Street, im Herzen von Chinatown in Manhattan. Es ist das Chinatown von der Postkarte: Die Schriftzüge auf den roten und gelben Markisen sind öfter chinesisch als englisch, die Schilder über den Auslagen der Geschäfte ebenfalls und die zahlreichen Restaurants bieten jeweils zwei Menükarten an, eine auf Englisch mit Bildern für Touristen und eine andere für chinesische Stammgäste und sonstige Eingeweihte.
Bei genauerem Hinschauen fällt allerdings auf: Auf den Trottoirs hat man überraschende Ellbogenfreiheit. Kein Vergleich mit dem Gedränge von früher. Und zwischen den bunten Ladenfassaden gibt es hässliche Lücken. Wieder und wieder sieht man heruntergelassene Rollläden und «Zu vermieten»-Schilder.
Die Pandemie hat Chinatown hart getroffen
«Chinatown kämpft ums Überleben», sagt Grace Young. Sie setzt sich dafür ein, dass es überlebt. Young ist Expertin für chinesische Kultur und Küche und Autorin mehrerer preisgekrönter Kochbücher. Seit dem Ausbruch der Covid-Pandemie ist sie auch Aktivistin. Denn die Pandemie hat Chinatown wirtschaftlich viel härter getroffen als den Rest von New York.
«Hier blieb die Kundschaft schon im Januar 2020 weg», sagt sie, «also lange bevor die USA offiziell den ersten Covid-Fall verzeichneten.» Während Geschäfte und Restaurants in anderen Teilen der Stadt inzwischen beinahe wieder so viel Umsatz machen wie vor der Krise, liegen die Einnahmen in Chinatown bei knapp fünfzig Prozent.
Der Grund dafür: Die irrige Angst von Leuten, sich in Chinatown eher anzustecken als andernorts – und Rassismus. Grace Young: «Ex-Präsident Trump sprach von Anfang an vom Wuhan-Virus, vom China-Virus. Diese Rhetorik hat Chinatown enorm geschadet.»
Geschadet haben Fehlinformationen und Vorurteile nicht nur Chinatown. Die Zahl der Hassverbrechen gegen Menschen asiatischer Herkunft ist in den Vereinigten Staaten in den vergangenen 18 Monaten um 169 Prozent gestiegen. In New York ist es mit einem Anstieg von 400 Prozent am schlimmsten.
Unterwegs in Chinatown
Allein dieses Jahr sind hier über vierzig Leute auf offener Strasse brutal angegriffen worden: Eine ältere Frau auf dem Weg zur Kirche wurde mit einem Hammer niedergeschlagen. Ein Mann liegt im Koma, nachdem ihn ein Angreifer in den Kopf getreten hat. Alle diese Angriffe waren von rassistischen Beschimpfungen begleitet.
Um Chinatown zu helfen, hat Grace Young unter anderem eine Videoserie mit dem Titel «Chinatown Stories» gestartet, in der sie Anwohner des Viertels über ihre Schwierigkeiten und Ängste sprechen lässt. Sie hat eine Instagram-Kampagne unter dem Hashtag #SaveChineseRestaurants lanciert und mehrere zehntausend Dollar an Spendengeldern gesammelt.
Eines der Restaurants, für das sie sich einsetzt, ist das beliebte Quartierlokal Hop Lee. Hier haben die örtlichen Postbeamten ihren Stammtisch. Das Mittagsmenü kostet 6.75 Dollar – 76 Cents mehr als vor der Pandemie.
«Ich musste den Preis erhöhen», sagt Hop-Lee-Besitzer Johnny Mui hörbar zerknirscht. «Aber auch so verliere ich jeden Tag Geld.» Nur die Hälfte seiner Angestellten würden wieder arbeiten. «Nach 17 Uhr ist hier im Viertel nichts mehr los. Die Leute wagen sich nicht mehr auf die Strasse, Gäste von ausserhalb fehlen sowieso.»
Asienfeindlichkeit hat eine lange Geschichte
Von der Angst spricht auch Ming Huang, Manager des Wo Hop, einer weiteren Nachbarschaftsinstitution. «Ich selbst bin zum Glück bisher nicht angegriffen worden. Aber fast alle meiner Mitarbeiter wurden auf dem Arbeitsweg wiederholt angepöbelt, angespuckt.»
Grace Young erinnert ihn an die Taschenalarme, die sie für ihn, sein Personal und dutzende andere Restaurantangestellte organisiert hat, daumengrosse Geräte, die auf Knopfdruck einen schrillen Ton von sich geben. «Wir tragen ihn immer bei uns», bestätigt er, resigniert: «Die Asienfeindlichkeit wird immer da sein. Sie ist Teil unseres Lebens hier.»
Ming Huangs Resignation hat gute Gründe. Denn die Asienfeindlichkeit und speziell die China-Feindlichkeit verfügen in den USA über eine lange Geschichte. Schon kurz, nachdem die ersten chinesischen Immigranten vor 150 Jahren für den Bau der transkontinentalen Eisenbahn ins Land gekommen waren, empfand man sie als «Gelbe Gefahr». Man fürchtete nicht nur ihre Konkurrenz, sondern auch, dass sie die weisse Rasse «verunreinigen» könnten.
1882 verabschiedete die Regierung deshalb ein Gesetz, das die Einwanderung aus China verbot. 1926 wurde das Verbot auf den gesamten asiatischen Raum ausgeweitet. Erst 1968 wurden die letzten restriktiven Quoten für Immigranten aus Asien aufgehoben. Bis weit ins 20. Jahrhundert kam es in amerikanischen Chinatowns zu Massakern.
Freiwillige überwachen die Strassen
Manche sind zur Selbsthilfe übergegangen. Zum Beispiel Karlin Chang. Von der «Stoppt den Asien-Hass»-Kampagne, die die New Yorker Stadtregierung lanciert hat, verspricht er sich wenig. Deshalb hat der langjährige Nachbarschaftsaktivist im Februar 2020 die «Chinatown Block Watch» gestartet. Seither zieht er mit einer Gruppe von Freiwilligen mehrmals pro Woche durch die Strassen des Viertels: «Ich will damit für sichtbare Abschreckung sorgen und signalisieren: Wir beschützen euch und sind bereit, bei Übergriffen einzugreifen.»
Die «Block Watch» ist freilich entschieden kein Schlägertrupp. Das Alter der jeweils ein, zwei Dutzend Teilnehmenden bewegt sich zwischen 8 und 80 Jahren, und in die Kategorie «topfit» passen die wenigsten. Dennoch wissen die Anwohner die «Block Watch» zu schätzen. Chang: «Wir multitasken. Wir funktionieren als eine Art wandelnde Quartierzeitung und vermitteln Kontakte zu Non-Profitorganisationen, die sich um alles Mögliche kümmern, von Mieterunterstützung bis zur Ausgabe von Gratis-Essen. Und wer sich konkret bedroht fühlt, ist eher bereit, mit mir zu reden als mit der Polizei.»
Karlin Chang ist wie Grace Young überzeugt: Chinatown ist ein Ort, der von Immigrantinnen und Immigranten aufgebaut wurde. Er erzählt die Geschichte der Vereinigten Staaten. «Es ist etwas von dem, was New York, was Amerika so besonders macht», so Grace Young, «das müssen wir bewahren.»