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Gesellschaft & Religion Religiös sein ist keine Frage der Wahl

Es braucht neue Formen von Religion – zum Beispiel durch zeitgemässe Rituale. Das fordert der Schweizer Buchautor Adrian Naef. Glauben? Er sei den Menschen aufgezwungen worden. Und Gott? Ein Konzept von früheren Patriarchen.

Herr Naef, Sie waren in den 1980er-Jahren als konfessionsloser Religionslehrer tätig. Wie kam es dazu?

Adrian Naef

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Legende: Rahel Greuter

Adrian Naef, geboren 1948, studierte Ökonomie und bildete sich zum Fachlehrer aus. Er arbeitete als Religionslehrer, später als Spitalpädagoge und Bildredaktor. Heute lebt er in Zürich und im Tessin und braut sein eigenes Bier.

Adrian Naef: Damals herrschte ein grosser Mangel an Religionslehrern. Obwohl ich mit 18 Jahren aus der reformierten Kirche ausgetreten bin, wollte mich die Schulleitung als Fachlehrer anstellen. Nach dem Bewerbungsgespräch haben sie mich gleich für den darauffolgenden Montag ins Klassenzimmer bestellt.

Wie sah Ihr Religionsunterricht aus?

Ich habe alles benutzt, was die Jugendlichen interessierte und sie zum Staunen über unsere Existenz brachte: Von Filmen und Fotos zu den damaligen Jugendunruhen in Zürich über physikalische Experimente zum Magnetismus bis hin zum Aufdecken fauler Zauberspiele. Dazu gehörten auch kritische Bibel-Lesestunden oder kleine Rituale. Der Stoff ging mir nie aus.

Rituale spielen in Ihren Büchern zu Religion eine wichtige Rolle. Warum?

Rituale sind ein Urbedürfnis des Menschen. Die Jugendlichen meiner Klassen wollten konfirmiert werden, obwohl sie dem Pfarrer die Bibel an den Kopf geworfen haben. Sie wollten im Kreise der Erwachsenen anerkannt werden und zu ihnen dazugehören. Wenn solche Bedürfnisse nicht in einem speziellen Rahmen aufgefangen werden, machen die Jugendlichen selber ein Ritual und schlagen in der Unterführung einen Mann zusammen oder veranstalten im Dorf ein Autorennen.

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Kirche nein, Spiritualität ja. Dieses Motto umschreibt einen aktuellen Trend. Welche Formen von christlicher Spiritualität gibt es? Wie werden sie im Alltag gelebt? Antworten darauf suchen die ehemalige reformierte Pfarrerin Gisula Tscharner und Kapuzinerbruder Niklaus Kuster – beide zu Gast in der Sendung Sternstunde Religion vom 26. April 2015.

Was hat das mit Religion zu tun?

Das Ritual an sich ist älter als Religion. Aber wenn man sich mit Ritualen auseinandersetzt, gelangt man schnell ins Feld des Religiösen. Wenn wir beispielsweise nachts auf einer Wiese liegen und in den Himmel schauen, staunen wir über die Sterne am Firmament. Wir erkennen uns selbst in Bezug auf etwas Grösseres. Dieses Staunen sehe ich als Quelle unserer Spiritualität.

Sie sprechen in diesem Zusammenhang auch von einer «religiösen Begabung» des Menschen.

Weil wir staunende und deshalb erkennende Wesen sind, die Welt erforschen und darüber nachdenken, führen wir unweigerlich ein spirituelles Leben – ob wir wollen oder nicht. Religiös zu sein ist also keine Frage der Wahl, sondern viel eher eine Frage der Form. Wie wollen wir unsere alltäglichen, spirituellen Bedürfnisse heute ausdrücken und leben?

Haben Sie einen Vorschlag?

Nehmen wir als Beispiel das Fest der Partnerschaft. Im Verhältnis zu früher werden heute die Menschen viel älter und es wird absurd, sich bis ans Lebensende Treue zu schwören. Für mich muss deshalb viel eher das Kindeswohl im Zentrum des Eheversprechens stehen. Wenn die Nahestehenden des Ehepaars zusammen kommen, soll das Paar erklären, dass es alles für das Wohl des Kindes unternehmen wird. Gleichzeitig sollen die Anwesenden bekunden, dass sie das Paar dabei unterstützen und auch als Ansprechpartner für das Kind zur Verfügung stehen. Damit sind keine Gefühle versprochen, sondern ein abschätzbarer Wille und Mithilfe.

Damit sprechen Sie sich auch für ein neues Konzept der Familie aus.

Ich plädiere für eine sogenannte Wahlverwandtschaft. Ein Kind braucht ein ganzes Dorf, um sich orientieren zu können. Das Dorf darf aber nicht mehr als etwa 70 Mitglieder umfassen, weil sonst die Gesichter und Namen der Bezugspersonen verschwinden. Sind es mehr als 70, entsteht eine unüberschaubare Masse.

Das ist schliesslich ja auch Ihre Kritik an den Landeskirchen.

Es ist wie mit dem Dorf: Kirchen, die mehr als 70 Mitglieder haben, bringen Regeln und Gesetze hervor, um die Masse zu kontrollieren. Der Papst und der ganze Apparat bestimmen von Rom aus, was hier in Zürich gemacht werden soll. Das finde ich problematisch. Deshalb finde ich auch Gemeindefusionen schwierig.

Es sind also die Institutionen, die Sie stören?

Buchhinweise

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Adrian Naef: «Zeitbombe Religionen», Elster, erscheint im Mai 2015.

Adrian Naef: «Rituale. Woher sie kommen – warum wir sie brauchen», Elster, 2014.

Gegen Institutionen ist ja eigentlich nichts einzuwenden. Ich bin gegen Verwaltung von Religion, weil damit nur Machtpositionen gestärkt werden. Aber ich bin sehr für die Idee der Kirche! Wir Menschen sind Gemeinschaftswesen und benötigen den sozialen Austausch. Ein Beispiel: Im Sommer werde ich eine Hochzeit begleiten. Bei schönem Wetter können wir das Ritual unter einem Lindenbaum abhalten und wenn es regnet, können wir auch in eine Garage. Das alles ist für mich Kirche.

Aber ohne Glaube und ohne Gott?

Richtig. Glaube ist für mich fokussierte Hoffnung. Ich gehe davon aus, dass jeder Mensch Hoffnung besitzt und ohne sie nicht leben kann. Sie motiviert uns jeden Morgen aufzustehen, weil das Leben gut ist oder besser werden kann. Vor Hunderten von Jahren haben aber die Patriarchen Gott als Ziel dieser Hoffnung angeboten und den Menschen den Glaube an Gott aufgezwungen. Das lehne ich ab. Es braucht neue Formen von Religion und Rituale können dabei von grosser Hilfe sein.

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