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Relotius und die Folgen Wie viel Wahrheit verträgt der Journalismus?

Er hat getäuscht und gelogen: Der Fall des Journalisten Claas Relotius hat das Vertrauen in die Medien erschüttert. Was sind die Konsequenzen für den Journalismus?

Allein die Architektur des «Spiegel»-Gebäudes in der Hamburger Hafencity spricht Bände: 13 Geschosse und eine glitzernde Glasfassade.

Doch hinter der makellosen Fassade zeigt das Renommee des «Spiegel» tiefe Risse. Nichts hat den Giganten des deutschsprachigen Journalismus so sehr erschüttert wie der Skandal um einen seiner Besten. Der preisgekrönte Journalist Claas Relotius – jung, extrem erfolgreich, gefeiert für sprachlich geschliffene, durchkomponierte, bildreiche Reportagen – wurde des Fälschens und Lügens überführt.

Porträt Claas Relotius
Legende: Seine erfundenen Geschichten haben dem Ansehen des Journalismus grossen Schaden zugefügt: Claas Relotius. KEYSTONE / DPA / Ursula Düren

Ein Supergau für das Haus, das sich rühmt, wie kein anderes über eine grosse Abteilung von sogenannten Dokumentaren zu verfügen. Dort wird jeder Artikel geprüft, jedes einzelne Faktum auf seinen Wahrheitsgehalt gecheckt.

Und dennoch: Ausgerechnet «Der Spiegel» musste zugeben, dass Relotius gedichtet hatte. Er hat ganze Storys erfunden, Personen und Details zu wahren Geschichten hinzugefügt. Er hat ausgeschmückt, dramatisiert und die Wirklichkeit so hingebogen, dass sie in seine Geschichten passte.

Im Dezember 2018 fliegt Relotius auf. Der designierte Chefredakteur Ullrich Fichtner muss eingestehen: «Ein Reporter des ‹Spiegel› hat in grossem Umfang eigene Geschichten manipuliert.»

Eine Kommission wird gebildet, sie soll aufklären, wie es dazu kommen konnte. Sie versucht sich ein Bild zu machen von redaktionellen Strukturen und einem journalistischen Umfeld, das die Augen verschloss und die Fälschungen des Claas Relotius nicht wahrnehmen wollte.

Aufklärung des Falls Relotius

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Dazu befragen «Spiegel»-Chefredaktor Clemens Höges, Nachrichtenchef Stefan Weigel sowie die ehemalige Chefredaktorin der «Berliner Zeitung», Brigitte Fehrle, Mitarbeiter und Vorgesetzte.

Im grosszügigen Foyer des «Spiegel»-Gebäudes treffen wir Brigitte Fehrle.

Brigitte Fehrle

Journalistin

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Die Journalistin Brigitte Fehrle arbeitete als Redaktorin und Reporterin bei verschiedenen deutschen Medien: der «taz», der «Frankfurter Rundschau» und der «Zeit». Zudem war sie vier Jahre lang Chefredaktorin der «Berliner Zeitung».

SRF: Der Fall Relotius hat nicht nur den «Spiegel» als Institution getroffen, sondern den Journalismus insgesamt erschüttert. Ausgerechnet in Zeiten, in denen von «Lügenpresse», von «Fake News» und alternativen Fakten die Rede ist. Wie gross ist die Erschütterung?

Brigitte Fehrle: So ein Fälschungsfall greift den Journalismus in seinen Grundfesten an. Was ist Journalismus, wenn er nicht wahrhaftig ist, wenn er nicht wahrheitsgemäss ist? Insofern hat es eine sehr grosse Erschütterung gegeben.

Wie nachhaltig die ist, und ob daraus wirklich ein Nachdenken entsteht über uns und unsere Branche, ob sich etwas ändern wird – das müssen wir abwarten.

So ein Fälschungsfall greift den Journalismus in seinen Grundfesten an.

Der Bericht, den Sie verfasst haben, fordert genau das: ein Nachdenken. Sie klären ja nicht nur den Betrugsfall auf, Sie berichten auch über strukturelle Probleme innerhalb des «Spiegel» und fragen, wie es um den Qualitätsjournalismus überhaupt steht.

Genau. Wir haben uns nicht mit der Frage beschäftigt, warum Relotius gefälscht hat. Sondern: Warum hat es niemand gemerkt?

Wieso fiel keinem seiner Kollegen auf, dass mit diesen Texten was nicht stimmt? Ich glaube, das ist symptomatisch für eine bestimmte Form von Journalismus.

Welche Form von Journalismus meinen Sie?

Die Reportage. Sie ist anfällig für das Ausschmücken, für das Überhöhen von Themen. Da sind die Grenzen der Wirklichkeit sehr schnell überschritten. Immer dann, wenn man besonders schön schreiben will, wenn man im Grunde das aufschreibt, was man selber im Kopf hat und nicht das, was man sieht, dann ist die Grenze vom Journalismus zur Literatur schnell überschritten.

Aber ist nicht gerade das die Aufgabe von Journalismus, dass man die komplexe Wirklichkeit für seine Leserinnen und Leser begreifbar macht?

Die Grenze vom Verdichten zum Dichten ist fliessend und am Ende auch schmal. Ich würde niemandem unterstellen, dass er fälschen möchte. Aber wenn eine Wirklichkeit nicht mehr so abgebildet wird, wie sie ist – nämlich widerborstig und grau und widersprüchlich und nicht rund und glatt – dann hat man diese Grenze im Grunde genommen schon überschritten.

Die Reportage ist anfällig für das Überhöhen von Themen.

Sie kritisieren in Ihrem Bericht bestimmte Tendenzen im Journalismus, im Storytelling, die heutzutage üblich sind.

Ja. Wenn man eine Geschichte so aufschreibt, dass sie sozusagen eine filmische Dramaturgie bekommt, eine Art Drehbuch. Dann verlässt man die Wirklichkeit, weil die Wirklichkeit nie filmisch ist.

Das ist aber das, was jungen Leuten an einigen Journalistenschulen beigebracht wird oder wurde: Dass sie filmische Dramaturgien für Reportagen anwenden. Das hat aber in einer Reportage, die was mit Wirklichkeit zu tun hat, einfach nichts verloren.

Der Bericht Ihrer Kommission ist deshalb so interessant, weil er sich nicht nur auf interne Vorgänge in der Redaktion des «Spiegel» bezieht. In grossen Teilen kritisieren Sie auch den Journalismus an sich, der den Fall Relotius erst möglich machte.

Ich glaube, dass der Journalismus heute zu selbstbezogen ist, dass Journalisten sich zu wenig mit ihren Lesern auseinandersetzen und sich zu wenig um die Themen kümmern, die die Menschen interessieren. Und was noch viel wichtiger ist: Der Journalismus ist nicht transparent.

Der Journalismus ist nicht transparent.

Der Journalist teilt dem Leser in den seltensten Fällen mit: Woher habe ich meine Informationen? Woher weiss ich das? Habe ich das selbst gesehen? Ist mir das erzählt worden? Von wem? Welches Interesse hat möglicherweise derjenige, der mir das erzählt? Der Journalist macht sich da auch manchmal zum Komplizen seiner Informanten, indem er deren Sichtweise einfach wiedergibt.

Was muss sich ändern?

Wir müssen stärker unterschiedliche Positionen in unsere Arbeit aufnehmen und den Lesern vermitteln, dass wir unterschiedliche Meinungen zur Kenntnis genommen haben. Unterschiedliche Informationen, unterschiedliche Haltungen.

Ich glaube, diese Art von Journalismus funktioniert nicht mehr.

Ansonsten kommt der Vorwurf der Bevormundung: «Ihr Journalisten wollt uns die Welt erklären, ihr wollt uns vorschreiben, was wir zu denken haben.» Ich glaube, diese Art von Journalismus hat lange funktioniert. Aber die funktioniert jetzt definitiv nicht mehr.

Das Gespräch führte Eduard Erne.

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