In 1500 Universitäten, Bibliotheken, Kulturzentren und Schulen sowie online wurden Texte diktiert. Mehrere Tausend Freiwillige korrigieren und bewerten. «Totalnyj Diktant» – das «Totale Diktat» nennt sich ein alljährlicher Rechtschreibwettbewerb. Das Motto: «Richtig schreiben ist modisch.»
Neben Orthografiekenntnissen vertieft der Wettbewerb auch das Gefühl, zusammenzugehören. Das ist für das Putin-Regime pures politisches Kapital.
Ausser dem Sieg im Zweiten Weltkrieg gibt es nicht viele gemeinsame Nenner, auf die sich die gespaltene russische Gesellschaft einigen kann. Die Orthografie als zweiter Pfeiler ist da hochwillkommen. Unverfänglicheres gibt es nicht.
«Das ‹Totale Diktat› ist ein Fest»
Verfasserin der diesjährigen Diktattexte ist Schriftstellerin Gusel Jachina. Im Westen ist sie mit ihrem hochgelobten Debüt-Roman «Suleika öffnet die Augen» über ein Frauenschicksal im Gulag bekannt geworden.
Es sei eine grosse Ehre für sie, sagte die 41-Jährige, dass Auszüge aus ihrem neuen Roman über die Wolgadeutschen ausgewählt worden seien. «In der Schule ist es natürlich kein Spass, Diktate zu schreiben. Aber das ‹Totale Diktat› ist ein Fest. Die Leute warten das ganze Jahr darauf, sie nehmen jedes Jahr teil und wollen ihre Noten verbessern.»
Die politischen Freuden der Orthografie
Die Idee zu einem Rechtschreibwettbewerb ist vor 12 Jahren in Nowosibirsk entstanden. Einige Dozenten der Sprachwissenschaft wollten spielerisch für mehr Orthografiekenntnisse sorgen.
Schon nach wenigen Jahren beteiligten sich Tausende an der alljährlich stattfindenden Aktion. Ganzjährige Russischkurse sorgen für eine 1A-Vorbereitung, Sprachstudenten organisieren generalstabsmässig die Durchführung des Wettbewerbs.
Für den Kreml interessant
Die grosse Beteiligung der Russen macht den Wettbewerb natürlich auch für den Kreml interessant. Das Putin-Regime hat den Rechtschreibwettbewerb inzwischen längst gekapert. Staatlich unabhängige Initiativen in dieser Grössenorganisation werden in Russland ohnehin nicht geduldet.
In Moskau fand das Diktatschreiben denn auch unter anderem im Stadtparlament statt, wo Abgeordnete der Partei «Einiges Russland» diktierten. Staatliche Organisationen wie etwa die «Agentur für strategische Initiativen» oder der «Fond der Präsidentenstipendien» fördern das «Totalny Diktant».
Gesellschaftliches Diktat
Als wär’s aus dem Handbuch für Putinisten: Im Rahmen des Diktatwettbewerbs lässt sich mühelos eine gleichgeschaltete Gesellschaft von unten aufbauen.
Was ist schon unverfänglicher als ein Diktat? Oder die Wahl der Hauptstadt eines Diktatwettbewerbs? «2018 wurde erstmals durch Volksabstimmung eine Hauptstadt des ‹Totalen Diktats› gewählt», sagt Gusel Jachina. Unter 15 Städten, darunter auch die estnische Hauptstadt Tallinn, fiel die Wahl auf Wladiwostok.
«Wir wollen die Massen an der Wahl der Hauptstadt beteiligen.» Eine Volksabstimmung mit dem Segen des Kreml, dem sonst nicht gerade an Wahlen gelegen ist.
Imperiale Grössenverhältnisse
Neben Orthografiekenntnissen bietet die Aktion auch Trost für den Blues des Imperiumverlusts. Auf einer Weltkarte, die online abrufbar ist, sind alle Orte markiert, an denen Russischsprechende an dem Diktat teilnehmen: von der Antarktis über Alaska bis hin zu Neuseeland oder Panama.
Auch auf Langstreckenflügen zwischen Petersburg und Wladiwostok konnte man mitschreiben. Sogar Kosmonaut Oleg Artjomow beteiligt sich im Orbit am Wettbewerb. Die russischen Medien berichteten, als hätte es Regionalwahlen gegeben, jubeln von «astronomischen Ausmassen» des Wettbewerbs.
Gelenkte Spontaneität
Das «Totalnyj Diktant» läuft in Russland unter dem Genrebegriff des «flashmob». Eigentlich kennzeichnen aussergewöhnliche, blitzartige Aktionen diese Form des spontanen Menschenauflaufs.
In Russland ist das eben nur unter den Bedingungen des «Totalen Diktats» möglich. Vor diesem Hintergrund ist der Wettbewerb ein Moment der Wahrheit des Putin-Regimes. «Totales Diktat» eben.
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kultur Aktualität, 16.4.2018, 7.20 Uhr